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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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verleihe meiner Stimme einen so sanften und flirtenden Klang wie möglich. »Die Leute lieben mich eben.«
    Â»Das sehe ich«, sagt er und zwinkert mir zu.
    Ich lasse ihn ein Stück weiter die Reihe entlanggehen, bevor ich laut sage: »Ich habe noch gar keine Rose von Ihnen bekommen, Mr Daimler.«
    Er dreht sich nicht um, aber ich kann sehen, wie seine Ohren rot werden. Die Klasse kichert und prustet. Ich verspüre diesen Rausch, dereinen erfasst, wenn man weiß, man tut etwas, was man nicht soll, und kommt damit durch, wie wenn man etwas aus der Schulmensa mitgehen lässt oder sich heimlich während eines Familienurlaubs betrinkt.
    Lindsay sagt, Mr Daimler wird mich eines Tages wegen sexueller Belästigung verklagen. Das glaube ich nicht. Ich glaube, insgeheim gefällt es ihm.
    Ein Beispiel dafür: Als er sich zur Klasse umdreht, lächelt er.
    Â»Nachdem ich die Ergebnisse des Tests aus der letzten Woche durchgesehen habe, habe ich festgestellt, dass das mit den Asymptoten und Grenzwerten offenbar noch nicht so ganz klar geworden ist«, hebt er an, wobei er sich an sein Pult lehnt und die Beine an den Knöcheln übereinanderschlägt. Ich bin sicher, dass niemand sonst Mathe auch nur im Geringsten interessant machen könnte.
    Den Rest der Stunde über sieht er mich kaum an und auch dann nur, wenn ich mich melde. Aber ich schwöre, dass mir jedes Mal ein Schauer über den ganzen Körper läuft, wenn unsere Blicke sich begegnen. Und ich schwöre, dass es ihm genauso geht.
    Nach dem Unterricht holt Kent mich ein.
    Â»Und?«, fragt er. »Was hältst du davon?«
    Â»Wovon?«, frage ich, um ihn zu ärgern. Ich weiß natürlich, dass er von der Karikatur und der Rose spricht.
    Kent lächelt bloß und wechselt das Thema. »Meine Eltern sind dieses Wochenende nicht da.«
    Â»Schön für dich.«
    Sein Lächeln gerät nicht ins Wanken. »Ich gebe heute Abend eine Party. Kommst du?«
    Ich sehe ihn an. Ich habe Kent nie verstanden. Oder zumindest verstehe ich ihn seit Jahren nicht. Als wir klein waren, waren wir totaleng befreundet – streng genommen war er wohl mein bester Freund und außerdem der erste Junge, den ich geküsst habe –, aber auf der weiterführenden Schule wurde er immer seltsamer. Seit der Neunten kommt er immer mit einem Blazer in die Schule, obwohl die meisten am Saum ausgefranst sind oder Löcher in den Ellbogen haben. Er trägt jeden Tag dieselben abgewetzten schwarz-weiß karierten Turnschuhe und seine Haare sind so lang, dass sie ihm alle fünf Sekunden wie ein Vorhang vor die Augen fallen. Aber was mir den Rest gibt: Er trägt eine Melone. In der Schule.
    Das Schlimmste daran ist, dass er gut aussehen könnte. Er hat das Gesicht und den Körper dafür. Unter seinem linken Auge ist ein kleines herzförmiges Muttermal, ohne Scheiß. Aber er muss das alles dadurch kaputt machen, dass er so durchgeknallt ist.
    Â»Ich weiß noch nicht, was ich heute Abend mache«, sage ich. »Wenn alle da landen …« Ich beende den Satz nicht, damit er merkt, dass ich nur komme, wenn ich nichts Besseres zu tun habe.
    Â»Es wird genial«, sagt er immer noch lächelnd. Das ist noch so etwas Nerviges an Kent: Er tut immer so, als wäre die Welt ein großes, glänzendes Geschenk, das er jeden Morgen auspacken darf.
    Â»Mal sehen«, sage ich. Am anderen Ende des Gangs entdecke ich Rob, der die Schulmensa betritt, und ich gehe schneller in der Hoffnung, dass Kent es kapiert und zurückbleibt. Das ist ziemlich optimistisch von mir. Kent ist seit Jahren in mich verknallt. Wahrscheinlich schon seit unserem Kuss.
    Er bleibt ganz stehen und hofft vielleicht, ich würde auch stehen bleiben. Aber das tue ich nicht. Einen Augenblick habe ich ein schlechtes Gewissen, als wäre ich zu schroff, aber dann ertönt seine Stimme hinter mir und ich kann schon am Klang erkennen, dass er immer noch lächelt.
    Â»Bis heute Abend«, sagt er. Ich höre seine Turnschuhe auf dem Linoleum quietschen und weiß, dass er sich umgedreht hat und in die entgegengesetzte Richtung davongeht. Er fängt an zu pfeifen. Das Geräusch klingt bis zu mir herüber und wird langsam leiser. Es dauert eine Weile, bis ich die Melodie erkenne.
    The sun’ll come out, tomorrow. Bet your bottom dollar that tomorrow there’ll be sun. Aus dem Musical Annie . Mein Lieblingslied –

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