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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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bringen. Komisch, oder? Wenn man klein ist, will man einfach nur älter werden, und später wünscht man sich, man könne wieder Kind sein.
    Mom mustert mein Gesicht aufmerksam. Ich habe das Gefühl, als könnte ich jeden Moment zusammenbrechen und mit irgendwas Verrücktem herausplatzen, deshalb drehe ich mich von ihr weg zur Wand.
    Â»Du liebst den Valentinstag«, bohrt meine Mutter. »Bist du sicher, dass nichts passiert ist? Du hast dich nicht mit deinen Freundinnen gestritten?«
    Â»Nein. Natürlich nicht.«
    Sie zögert. »Hast du dich mit Rob gestritten?«
    Darüber hätte ich am liebsten gelacht. Ich denke daran, dass er mich auf Kents Party einfach oben hat stehen- und warten lassen, und fast sage ich: Noch nicht. »Nein, Mom. Gott.«
    Â»Red nicht in diesem Tonfall mit mir. Ich versuche nur zu helfen.«
    Â»Ja, ja, tust du aber nicht.« Ich verkrieche mich weiter unter der Decke und habe ihr immer noch den Rücken zugekehrt. Ich höre ein Rascheln und denke, sie kommt rein und setzt sich neben mich. Aber das tut sie nicht. Nach einem heftigen Streit in der neunten Klasse habe ich mit rotem Nagellack direkt hinter der Tür eine Linie auf meinem Fußboden gezogen und ihr gesagt, wenn sie diese Linie je übertreten sollte, würde ich nie wieder mit ihr sprechen. Inzwischen ist ein Großteil des Nagellacks abgeblättert, aber an einigen Stellen kann man ihn noch auf dem Boden sehen wie Blutflecken.
    Ich hatte das damals ernst gemeint, aber damit gerechnet, dass sie es nach einer Weile vergessen würde. Aber seit diesem Tag hat sie mein Zimmer nicht mehr betreten. Das ist einerseits blöd, weil sie mich jetzt nicht mehr damit überrascht, dass sie mein Bett macht oder zusammengefaltete Wäsche oder ein neues Sommerkleid darauflegtwie früher. Aber wenigstens weiß ich, dass sie nicht meine Schubladen durchwühlt, während ich in der Schule bin, und nach Drogen oder Sexspielzeug oder sonst was sucht.
    Â»Wenn du mal hier rauskommst, hole ich das Fieberthermometer«, sagt sie.
    Â»Ich glaube nicht, dass ich Fieber habe.« An der Wand ist eine Macke, die genau die gleiche Form hat wie eine Fliege, und ich drücke meinen Daumen gegen die Wand und zerquetsche sie.
    Ich kann geradezu spüren, wie meine Mutter die Hände in die Hüften stemmt. »Hör zu, Sam. Ich weiß, es ist das zweite Halbjahr. Und ich weiß auch, dass du glaubst, das gebe dir das Recht, dir keine große Mühe mehr zu geben …«
    Â»Mom, das ist es nicht.« Ich vergrabe meinen Kopf unter dem Kissen und würde am liebsten schreien. »Ich hab dir doch gesagt, mir geht es nicht gut.« Halb habe ich Angst, dass sie mich fragen wird, was los ist, und halb hoffe ich, dass sie es tut.
    Sie sagt nur: »Na gut. Ich sage Lindsay, dass du dir überlegst, heute später zu kommen. Vielleicht geht es dir besser, wenn du noch ein bisschen geschlafen hast.«
    Das bezweifle ich. »Vielleicht«, sage ich und einen Augenblick später höre ich, wie die Tür hinter ihr zufällt.
    Ich schließe die Augen und tauche wieder in diese letzten Augenblicke ein, die letzten Erinnerungen – Lindsays überraschter Gesichtsausdruck und die Bäume, die im Scheinwerferlicht wie Zähne aufleuchten, das Aufheulen des Motors –, auf der Suche nach einem Licht, einem Faden, der diesen Moment mit jenem verbindet, nach einer Möglichkeit, die Tage zu verknüpfen, so dass sie einen Sinn ergeben.
    Aber ich finde nichts als Dunkelheit.
    Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie kommen alle auf einmal, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, schluchze und schniefe ich meine besten Ethan-Allen-Kissen voll. Etwas später höre ich etwas an meiner Tür kratzen. Pickle hatte schon immer einen Hundesinn dafür, wann ich weine, und nachdem Rob Cokran in der sechsten Klasse gesagt hat, mit so einer Schnepfe wie mir würde er bestimmt nie gehen – mitten in der Schulmensa, vor allen Leuten –, saß Pickle auf meinem Bett und leckte mir die Tränen eine nach der anderen ab.
    Ich weiß nicht, warum genau dieses Beispiel in meinem Kopf aufblitzt, aber als ich an den Moment zurückdenke, steigen erneut Wut und Frust in mir auf. Komisch, wie sehr mir diese Erinnerung zu schaffen macht. Ich habe Rob gegenüber diesen Tag nie erwähnt – ich bezweifle, dass er sich daran

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