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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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endlos durch Dunkelheit.
    Ich falle und falle und falle.
    Ist das immer noch Fallen, wenn es nie aufhört?
    Und dann ein Plärren. Etwas zerreißt die Stille, ein schreckliches hohes Heulen wie von einem Tier oder einem Wecker …
    Biepbiepbiepbiepbiepbiep.
    Mit einem erstickten Schrei wache ich auf.
    Zitternd mache ich den Wecker aus und lege mich zurück auf die Kissen. Meine Kehle brennt und ich bin schweißüberströmt. Ich atme tief und langsam und sehe, wie mein Zimmer von der Sonne, die sich langsam über den Horizont schiebt, immer heller wird und Dinge sichtbar werden: das Victoria’s Secret-Sweatshirt auf dem Boden, die Collage, die Lindsay mal vor Jahren aus Zitaten unserer Lieblingsbands und aus Zeitschriften für mich gebastelt hat. Ich lausche auf die Geräusche von unten, die so vertraut und gleichmäßig sind, als gehörten sie zur Architektur, als wären sie zusammen mit den Wänden hochgezogen worden: das Klappern des Geschirrs, das mein Vater in der Küche wegräumt; das hektische Kratzen unseres Mopses Pickle an der Hintertür, der versucht rauszukommen, wahrscheinlich um zu pinkeln und im Kreis zu rennen; ein leises Gemurmel, das bedeutet, dass meine Mutter die Morgennachrichten guckt.
    Als ich bereit bin, hole ich tief Luft und greife nach meinem Handy. Ich klappe es auf.
    Das Datum blinkt mir entgegen.
    Freitag, 12. Februar.
    Valentinstag in der Schule.
    Â»Aufstehen, Sammy.« Izzy steckt den Kopf durch die Tür. »Mommy sagt, du kommst zu spät.«
    Â»Sag Mom, ich bin krank.« Izzys blonder Bubikopf verschwindet wieder.
    Das ist es, woran ich mich erinnere: Ich erinnere mich daran, im Auto gesessen zu haben. Ich erinnere mich daran, wie Elody und Ally um den iPod gekämpft haben. Ich erinnere mich, wie sich das Lenkrad wild drehte und an Lindsays Gesicht, als das Auto auf den Wald zusegelte, ihr Mund offen und ihre Augenbrauen überrascht hochgezogen, als ob sie gerade jemanden, den sie kannte, an einem ungewöhnlichen Ort getroffen hätte. Aber danach? Nichts.
    Danach nur an den Traum.
    Das ist das erste Mal, dass ich es wirklich denke – das erste Mal, dass ich den Gedanken zulasse.
    Dass die Unfälle – beide – wirklich passiert sind.
    Und dass ich sie vielleicht nicht überlebt habe.
    Vielleicht faltet sich die Zeit um einen herum zusammen, wenn man stirbt, und man wird endlos in dieser kleinen Blase herumgeschleudert. Wie eine nach dem Tod spielende Fassung des Films Und täglich grüßt das Murmeltier . So hatte ich mir den Tod nicht vorgestellt – und das, was in meiner Vorstellung danach kam, auch nicht –, aber schließlich gibt es niemanden, der einem sagen könnte, wie es wirklich ist.
    Mal ehrlich: Wundert ihr euch, dass mir das nicht früher klar geworden ist? Wundert ihr euch, dass es so lange gedauert hat, bis ich das Wort auch nur gedacht habe – Tod? Tot? Sterben?
    Haltet ihr mich für blöd? Naiv?
    Versucht, nicht über mich zu urteilen. Denkt daran, wie ähnlich wir uns sind, ihr und ich.
    Ich dachte auch, ich würde ewig leben.
    Â»Sam?« Jetzt steht meine Mutter an der Tür. Sie stößt sie auf und lehnt sich an den Türrahmen. »Izzy sagt, dir geht es nicht gut?«
    Â»Ich … ich glaube, ich habe Grippe oder so was.« Ich weiß, dass ich scheiße aussehe, es klingt also bestimmt glaubwürdig.
    Meine Mutter seufzt, als würde ich ihr absichtlich Schwierigkeiten machen. »Lindsay wird jeden Moment hier sein.«
    Â»Ich glaub, ich kann heute nicht hingehen.« Wenn ich an die Schule denke, würde ich mich am liebsten zusammenrollen und ewig schlafen.
    Â»Am Valentinstag?« Mom hebt die Augenbrauen. Sie wirft einen Blick auf das pelzbesetzte Tanktop, das ordentlich über den Schreibtischstuhl drapiert ist – das einzige Kleidungsstück, das nicht irgendwo auf dem Boden rumfliegt oder an einem Bettpfosten oder Türknauf hängt. »Ist irgendwas passiert?«
    Â»Nein, Mom.« Ich versuche, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Das Schlimmste ist, zu wissen, dass ich niemandem erzählen kann, was mir passiert – oder passiert ist. Noch nicht mal meiner Mutter. Es ist wahrscheinlich Jahre her, dass ich zum letzten Mal mit ihr über etwas Wichtiges geredet habe, aber langsam sehne ich mich nach der Zeit zurück, als ich noch glaubte, sie könne alles in Ordnung

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