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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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einer Sekunde lang spüre ich, wie alle Augen auf mich gerichtet sind und mich anstarren. Unwillkürlich hebe ich die Hand ans Gesicht, weil ich plötzlich fürchte, dass alle mein raues Kinn bemerken und wissen, was ich getan habe.
    Ich verziehe mich wieder auf den Gang. Ich muss allein sein, wieder zu mir kommen. Ich gehe auf die Klos zu, aber als ich näher komme, platzen zwei Zehntklässlerinnen (Lindsay nennt sie Marshmallow-Sandwiches, weil sie immer zusammenkleben und mehr alszwei davon einem Übelkeit verursachen) Arm in Arm kichernd aus der Tür. Während der Mittagspause herrscht auf den Klos immer Hochbetrieb – alle müssen ihr Lipgloss erneuern, sich darüber beklagen, wie fett sie sind, damit drohen, sich in einer der Kabinen zu übergeben – und das Letzte, was ich jetzt im Moment gebrauchen kann, ist ein stetiger Strom dummes Zeug.
    Ich mache mich auf den Weg zu dem alten Klo am Ende des Gangs bei den Laborräumen. Das benutzt kaum noch jemand, seit letztes Jahr zwischen den Labors ein neueres Klo – mit Toiletten, die nicht rund um die Uhr verstopft sind – eingebaut wurde. Je weiter ich mich von der Schulmensa entferne, umso leiser werden die Geräusche, bis sie nur noch klingen wie das Meer in der Ferne. Mit jedem Schritt werde ich ruhiger. Meine Absätze hämmern einen gleichmäßigen Rhythmus auf die Fliesen.
    Wie erwartet ist es hier verwaist und riecht wie immer nach chemischen Putzmitteln und Schwefel. Heute ist da allerdings noch etwas anderes: der Geruch nach Rauch und etwas Erdigeres, Kräftigeres. Ich drücke gegen die Klotür und einen Augenblick lang tut sich nichts. Ich drücke fester und höre ein knirschendes Geräusch; da stemme ich meine Schulter gegen die Tür und schließlich schwingt sie auf und ich fliege hinterher. Als Erstes knalle ich mit dem Knie gegen den Stuhl, der unter den Türgriff geklemmt war, und Schmerz schießt mein Bein hinauf. Der Geruch auf dem Klo ist noch stärker.
    Ich lasse meine Tasche fallen, beuge mich vor und halte mir das Knie. »Scheiße.«
    Â»Was zum Teufel …?«
    Die Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich habe nicht gemerkt, dass noch jemand auf dem Klo ist. Als ich aufblicke, steht da Katie Carjullo mit einer Zigarette in der Hand.
    Â»Mann«, sage ich, »du hast mich vielleicht erschreckt.«
    Â» Ich habe dich erschreckt?« Sie lehnt sich gegen den Waschtisch und ascht in das Waschbecken. » Du bist doch hier reingeplatzt wie ein Bulldozer. Kannst du nicht anklopfen?« Als wäre ich gerade bei ihr zu Hause eingebrochen.
    Â»Tut mir leid, wenn ich deine Party gestört habe.« Ich mache eine halbherzige Bewegung auf die Tür zu.
    Â»Warte.« Sie hebt nervös die Hand. »Wirst du mich verpfeifen?«
    Â»Verpfeifen weswegen?«
    Â»Deswegen.« Sie nimmt einen Zug und bläst eine Rauchwolke aus. Die Zigarette, die sie raucht, ist extradünn und sieht aus, als hätte sie sie selbst gedreht. Da erst kapier ich’s: Es ist ein Joint. Das Gras muss mit ziemlich viel Tabak vermischt sein, weil ich den Geruch nicht gleich erkannt habe, und das, obwohl meine Klamotten nach jeder Party danach stinken. Elody hat mal gesagt, ich hätte Glück, dass meine Mutter nie in mein Zimmer käme, sonst würde sie denken, ich deale mit Gras, das ich in meinem Wäschekorb aufbewahre.
    Â»Ach? Hier rauchst du also dein Mittagessen?« Es soll nicht gemein sein, aber so klingt es. Ihre Augen huschen einen Moment zum Fußboden und dann fällt mir dort ein leerer Butterbrotbeutel und eine halb leere Tüte Chips auf. Mir wird bewusst, dass ich sie nie in der Schulmensa gesehen habe. Sie muss jeden Tag hier zu Mittag essen.
    Â»Ja. Mir gefällt die Einrichtung.« Sie bemerkt, dass ich den Butterbrotbeutel angucke, macht den Joint aus und verschränkt die Arme. »Was machst du überhaupt hier? Hast du keine …?« Sie hält inne, aber ich weiß, was sie sagen will. Hast du keine Freunde?
    Â»Ich musste mal«, sage ich. Das ist ganz offensichtlich gelogen, da ich keinerlei Anstalten gemacht habe, das Klo zu benutzen, aber ichbin zu fertig, um mir eine andere Ausrede einfallen zu lassen, und sie fragt auch nicht weiter.
    Wir stehen eine Weile herum und es herrscht unbehagliches Schweigen. Ich habe noch nie mit Katie Carjullo geredet, abgesehen von einem Mal, als ich sagte: »Nenn sie nicht

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