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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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kribbelnde Finger. Die Musik, die aus dem Auto der Jungs dröhnt, ist so laut, dass mir die Ohren wehtun, aber ich höre weder Wörter noch die Melodie heraus, nur den Rhythmus, der hämmert und hämmert – so laut, dass es gar kein Klang mehr ist, nur noch Schwingung, Gefühl.
    Â»Hey.« Das Wort kommt zuerst ganz krächzend heraus, also räuspere ich mich und starte einen zweiten Versuch. »He, Leute.«
    Der Fahrer dreht den Kopf in meine Richtung. Ich bin so überdreht, dass ich überhaupt nicht klar gucken kann, aber in diesem Moment bemerke ich, dass er eigentlich gar nicht so gut aussieht – er hat irgendwie schiefe Zähne und einen Strassstecker in einem Ohr, als sei er ein Rapper oder so was –, doch dann sagt er: »Hi, Süße«, und ich sehe, wie seine drei Freunde sich Richtung Fenster lehnen, um rüberzugucken. Eins, zwei, drei Köpfe schnellen hoch wie Schachtelteufel, wie bei »Hau-den-Maulwurf« in der Spielhalle, eins, zwei, drei , und ich hebe mein T-Shirt hoch und in meinen Ohren dröhnt, braust und pfeift es – Gelächter? Geschrei? – und ich höre Courtney rufen: »Los, los, los.« Dann quietschen unsere Reifen und das Auto macht einen Satz nach vorn, schlittert ein bisschen, der Wind schneidet mir ins Gesicht und der Gestank nach versengtem Gummi und Benzin verpestet die Luft. Langsam rutscht mir das Herz wieder vom Hals in die Brust, und die Wärme und das Gefühl kehren in meinen Körper zurück. Ich kurbele das Fenster hoch. Ich kann die Gefühle, die mich durchströmen, nicht erklären, ein Schwall, wie wenn man zu heftig lacht oder sich zu lange im Kreis dreht. Es ist nicht direkt Glück, aber ich gebe mich damit zufrieden.
    Â»Krass! Genial! « Courtney schlägt von hinten gegen meinen Sitz und Bethany schüttelt bloß den Kopf. Sie hat die Augen weit aufgerissen und streckt verblüfft den Arm aus, um mich zu berühren, als wäre ich eine Heilige und sie würde versuchen, von einer Krankheit geheilt zu werden. Tara kreischt vor Lachen. Ihre Augen tränen so stark, dass sie kaum die Straße sehen kann. »Habt ihr ihre Gesichter gesehen? Habt ihr das gesehen?«, stößt sie hervor, und mir wird bewusst, dass ich es nicht gesehen habe. Ich konnte gar nichts sehen, konnte nichts weiter spüren als das heftige, laute Dröhnen um mich herum. Mir kommt der Gedanke, dass ich nicht sicher bin, ob es sich so anfühlt, wirklich undernsthaft lebendig zu sein, oder ob es sich so anfühlt, tot zu sein, und das finde ich plötzlich unglaublich komisch. Courtney schlägt noch mal gegen meinen Sitz und ich sehe, wie ihr Gesicht rot wie die Sonne hinter mir im Rückspiegel auftaucht, und da fange ich auch an zu lachen. Den ganzen Weg zurück nach Ridgeview – fast dreißig Kilometer – lachen wir alle vier, während die Welt in schwarzen und grauen Flecken an uns vorbeizieht wie ein schlechtes Gemälde ihrer selbst.
    Wir legen einen Zwischenstopp bei Tara ein, um uns umzuziehen. Tara hilft mir wieder in mein Kleid, und nachdem ich das Pelzjäckchen und die Ohrringe angezogen und mein Haar geöffnet habe – das ganz wellig ist, weil ich es den ganzen Tag über hochgebunden hatte –, drehe ich mich zum Spiegel um. Mein Herz tänzelt wie ein Rentier in meiner Brust. Ich sehe aus wie mindestens fünfundzwanzig. Ich sehe aus wie jemand anders. Ich schließe die Augen und denke daran, wie ich als Kind im Bad stand, während die Spiegel, die vom Wasserdampf meiner Dusche beschlagen waren, wieder klar wurden, und um eine Verwandlung betete. Ich erinnere mich an den schalen Geschmack der Enttäuschung jedes Mal, wenn mein Gesicht wiederauftauchte, genauso unscheinbar wie immer. Aber als ich diesmal die Augen öffne, funktioniert es. Da bin ich: anders und umwerfend und nicht ich selbst.
    Das Abendessen geht natürlich auf meine Kosten. Wir essen im Le Jardin du Roi , diesem sauteuren französischen Restaurant, in dem alle Kellner total scharf und Franzosen sind. Wir bestellen den teuersten Wein auf der Karte und niemand fragt nach unserem Ausweis, also bestellen wir eine Runde Champagner als Aperitif. Er schmeckt so gut, dass wir noch eine Runde bestellen, noch bevor die Vorspeise gebracht wird. Bethany ist sofort betrunken und flirtet in schlechtem Französisch mit den Kellnern, nur weil sie die Sommerferien

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