Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
er anderen Leuten nichts Schlechtes.
Jetzt lacht Kent wirklich. » Ich halte mich für was Besseres?« Er runzelt die Stirn. »Das ist echt witzig, Sam. Hat dir schon mal jemand gesagt, wie witzig du bist?«
»Ich meinâs ernst.« Ich balle die Hände an meinen Schenkeln zu Fäusten. Ich weià gar nicht, warum ich so wütend auf ihn bin, aber ichkönnte ihn schütteln oder heulen. Er weià Bescheid über Mr Daimler. Er weià alles über mich und er hasst mich dafür. »Du solltest anderen Leuten kein schlechtes Gewissen machen, nur weil sie nicht perfekt sind oder was.«
Sein Mund klappt auf. »Ich habe nie gesagt â¦Â«
»Ich kann nichts dafür, dass ich nicht so bin wie du, okay? Ich stehe morgens nicht mit dem Gefühl auf, dass die Erde ein groÃer, leuchtender, glücklicher Ort ist, okay? So ticke ich einfach nicht. Ich glaube nicht, dass man mich in Ordnung bringen kann.« Eigentlich wollte ich sagen: Ich glaube nicht, dass man »das« in Ordnung bringen kann , aber es kommt falsch raus, und plötzlich bin ich kurz davor zu weinen. Ich muss heftig schlucken, um die Tränen zurückzuhalten, und wende mich von Kent ab, damit er es nicht merkt.
Einen Moment, der mir vorkommt wie eine Ewigkeit, herrscht Schweigen. Dann legt Kent nur eine Sekunde lang seine Hand auf meinen Ellbogen, seine Berührung streift mich wie Flügel. Allein diese kleine Berührung verursacht mir Gänsehaut.
»Was ich dir sagen wollte: Du siehst schön aus mit offenen Haaren. Das war alles, was ich dir sagen wollte.« Kents Stimme ist ruhig und leise. Er geht um mich herum zum Kopf der Treppe und bleibt auf der obersten Stufe stehen. Als er sich noch mal zu mir umdreht, sieht er traurig aus, trotz des winzigen Lächelns auf seinen Lippen.
»Du musst nicht in Ordnung gebracht werden, Sam.« Er sagt die Worte, aber es ist, als würde ich sie gar nicht hören; es ist, als würden sie gleichzeitig durch meinen ganzen Körper strömen, als würde ich sie aus der Luft saugen. Er muss wissen, dass das nicht stimmt. Ich mache den Mund auf, um ihm das zu sagen, aber er geht bereits die Treppe runter und verschmilzt mit der Menschenmenge, die ins Haus strömt. Ich bin eine Unperson, ein Schatten, ein Geist. Ich bin mir noch nichtmal sicher, ob ich vor dem Unfall ein ganzer Mensch war, das wird mir jetzt klar. Und ich weià nicht, wo der Schaden anfängt.
Ich trinke einen groÃen Schluck Bier und wünschte, ich könnte mich einfach volldröhnen. Ich will, dass die Welt verschwindet. Ich trinke noch einen groÃen Schluck. Wenigstens ist das Bier kalt, aber es schmeckt wie schales Wasser.
»Sam!« Tara kommt die Treppe herauf, ihr Lächeln leuchtet wie der Strahl einer Taschenlampe. »Wir haben dich schon gesucht.« Als sie oben ankommt, keucht sie ein bisschen, legt sich die rechte Hand auf den Bauch und beugt sich vor. In ihrer linken Hand hält sie eine halb gerauchte Zigarette. »Courtney hat den guten Stoff ausgespäht.«
»Den guten Stoff?«
»Whiskey, Wodka, Gin, Cassis und so weiter. Alk. Den guten Stoff.«
Sie nimmt mich an der Hand und wir gehen die Treppe wieder runter, die langsam von Leuten bevölkert wird. Alle bewegen sich in dieselbe Richtung: von der Tür zum Bier und dann die Treppe rauf. In der Küche drängeln wir uns durch den Haufen Leute, die vor dem Fass stehen. Auf der anderen Seite der Küche ist eine Tür, an der ein handgeschriebenes Schild hängt. Ich erkenne Kents Schrift.
Da steht: Bitte draussen bleiben .
Unten auf der Seite ist eine FuÃnote in kleiner Schrift: Im Ernst, Leute. Ich bin hier der Gastgeber und das ist das Einzige, worum ich euch bitte. Guckt mal! Hinter euch steht ein Fass Bier !
»Vielleicht sollten wir besser nicht â¦Â«, hebe ich an, aber Tara ist bereits zur Tür reingeschlüpft, also folge ich ihr.
Auf der anderen Seite der Tür ist es dunkel und kalt. Das einzige Licht dringt durch zwei riesige Erkerfenster herein, die auf den Garten hinausgehen.
Von weiter hinten höre ich Gekicher, dann das Geräusch von jemandem, der irgendwo gegenstöÃt. »Pass auf«, zischt jemand und dann höre ich Courtney sagen: »Versuch du doch mal, im Dunkeln einzugieÃen.«
»Hier lang«, flüstert Tara. Komisch, wie Stimmen im Dunkeln irgendwie weicher werden, als könnte man gar nichts dagegen
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