Wenn du wiederkommst
große Wichtigkeit bei. Ich war sein bester Freund, beteuert er statt einer Begrüßung und setzt sich neben den Chauffeur. Jeromes Tod verschafft ihm eine Bedeutung, die er als sein Kollege nie hatte. Wenn er wüßte, wie oft Jerome und ich über ihn gelacht haben, über seine Wichtigtuerei, seinen Geiz, seine Holzfällerhemden und karierten Hosen, die er, ebenso wie sein Toupet, im billigsten Abverkaufsgroßmarkt von Massachusetts kaufte, seine geschraubte Ausdrucksweise, seine zwanghaften Kalauer und banalen Aphorismen. Wenn er wüßte, wie wir über ihn lästern, wäre er tief getroffen, hatte Jerome gesagt. Er hat seinen Beruf verfehlt, er hätte Leichenbestatter werden sollen, denke ich, und: Das muß ich Jerome erzählen.
Was uns jetzt erwartet, ist ganz nah und bleibt zugleich unvorstellbar. Wir haben noch keine Worte für unseren Schmerz. Vom Himmel peitschende Wassermassen verschleiern die Sicht, wir schauen jeder auf seiner Seite auf die grauen Vorstadtstraßen, in den Wolkenbruch. Das Schweigen istunerträglich, und mitten in dieses Schweigen hinein sage ich: Wir brauchen eine Sterbeurkunde, und schäme mich sofort, mit einer so pietätlosen und pragmatischen Bemerkung das Schweigen gebrochen zu haben.
Nichts will Gegenwart werden, wir werden durch die Stationen eines Alptraums getrieben und können uns nicht widersetzen. Ein Begräbnis im engsten Familienkreis, hat es geheißen, und von Blumen sei abzusehen. Einzelne Schemen treten vor, bedeutungslos wie Statuen am Wegrand, es könnten hundert Menschen sein oder nur fünf, ich habe kein Gefühl für die Umgebung. Aus einer anderen Limousine wird der Sarg gehoben, eine helle Holzkiste. Das ist er, das ist das Wiedersehen: Next time let’s make love. Ich schließe die Augen. Heute morgen, vielleicht schon gestern hat jemand zum letztenmal seinen Körper berührt, ihn gewaschen, ihn angesehen, wenn auch mit dem unbeteiligten Blick des Leichenwäschers, ihn in ein Leinentuch eingeschlagen, wie ihn vor sechzig Jahren seine Mutter in ein Badetuch gewickelt hat. Wie viele Männer hat es gebraucht, ihn von der Bahre in diese Kiste umzubetten? Tote wiegen schwerer als Lebende. Und zu Hause liegen seine umgestülpte Hose, seine Schuhe, sein Hemd in einem grünen Plastiksack. Denke ich das wirklich in diesem Augenblick oder erst später, im Lauf der Monate, wenn die Einzelheiten immer von neuem auf mich eindringen?
Beeil dich, sagt Ilana, sonst begraben sie ihn ohne uns.
Sie hasten wie Diebe mit dem Sarg davon, wissen genau, wohin. Die Wege sind aufgeweicht, ich habe den Friedhof zuletzt beim Begräbnis von Louises Mutter gesehen, das war im Winter. Hier wolle er begraben werden, hatte Jerome damals mit Bestimmtheit gesagt, nicht auf dem modernen Friedhof, auf dem seine Eltern lagen, einer Landschaft, lieblich und harmlos wie ein Golfplatz, mit kleinen Plaketten, die, in den Rasen eingelassen, kaum sichtbar sind. Es sei verboten, Steine darauf zu legen, wir leben schließlich nicht mehr in der Wüste, wies man uns zurecht, als man uns beim Steine Sammeln
erwischte. Ich möchte, daß man auf mein Grab Steine legen kann, hatte Jerome gesagt. Er hatte die Möglichkeit zu sterben von sich gewiesen, aber sein Begräbnis hatte er sich gern vorgestellt: wie alle Frauen, die er je geliebt hatte, an seinem Grab stünden, eine beachtliche Schar, und um ihn weinten, ihn priesen und ihre Rivalität vergäßen. Dieser Friedhof ist ebenso authentisch wie Rabbi Schaefers Schul, in die Landsmannschaften des jüdischen Osteuropas unterteilt, der Juden von Wilna, von Łodz und Warschau, von Kosk, von Kowno und Białystok, eine Totenstadt mit schmucklosen Grabsteinen und Stelen, die sich den Hügel hinaufzieht bis an den Horizont. Das ist der Ort, den er sich ein halbes Jahr vor seinem Tod ausgesucht hat. Es regnet in Strömen. Als wir am Grab ankommen, ist der Sarg schon versenkt. Der Wolkenbruch löst die aufgeworfene gelbe Erde in zähen Lehm auf, schwemmt sie in die Grube zurück.
Bin ich das, die da im Regen vor einem ausgehobenen Grab steht? Warum stehe ich hier? Ein Begräbnis, daran besteht kein Zweifel. Ich war schon bei vielen Begräbnissen, sie sind immer traurig, es gibt etwas wie Etikette, die erwartet wird, und danach fühlt man sich wie ausgewrungen, man geht heim, wäscht sich die Hände, und das Leben geht weiter wie gewohnt. Ich ziehe mir den Schal über den Kopf, gegen die Kälte, die tief in mir sitzt, starre tränenlos auf das klaffende Loch in der Erde,
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