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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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und fühle mich ausgesetzt wie auf einer Bühne, wie eine Schauspielerin, die Trauer spielen muß, halte mich an unserer Tochter fest, die für mein Recht bürgt, hier dicht vor dem Grab als Trauernde zu stehen. Es ist ein zu großer Abstand zwischen mir und der Frau, der das alles zustößt, als daß sich Mitgefühl für ihr Schicksal einstellen könnte.
    Rabbi Schaefer steht mit seinem plastikbespannten schwarzen
Hut im aufgewühlten Lehm. Jeremia ben Joseph war ein Anwalt der Armen, sagt er, er hatte ein großes Herz, er half, ohne sich zu vergewissern, ob es sich für ihn lohnte.
    Jeremia. Selten habe ich ihn so nennen gehört, selten war er zur Tora aufgerufen worden, er hatte sich nie darum gedrängt. Der Name deckt nur den einen, verborgenen Teil seines Wesens ab, seine melancholische, grüblerische Seite, die er vor den meisten sorgfältig verbarg.
    Wie oft habe ich ihn angerufen, erzählt der Rabbiner, wenn uns zum Mincha-Gebet der zehnte Mann fehlte, und immer half er aus. Er blieb der Welt seiner Väter treu, auch wenn er selber auf dem Boden des modernen Amerika stand. Gewiß erinnert der Rabbiner sich jetzt gerade daran, daß Jerome als einziger am Schabbat, sogar am Versöhnungstag, mit dem Auto vorfuhr, erinnert sich an seine respektlosen, spöttischen Wortmeldungen, wenn sie nach dem Gottesdienst bei Challah und Wodka zusammenstanden.
    Aber sein Leben baute auf den Pfeilern von Zedaka und Chessed, fährt er fort, und sie bestimmten seine Handlungen, seine Großzügigkeit, auch die Großzügigkeit, mit der er unsere Gemeinde unterstützte. Niemandem, der ihn um Hilfe bat, konnte er widerstehen, sogar streunende Katzen fanden bei ihm ein Zuhause.
    Ich höre einen zustimmenden Laut hinter mir, Jeromes Bruder muß ihm von den Katzen erzählt haben.
    Es sind die Taten, die vor HaSchem zählen, sagt Rabbi Schaefer. Jeremia liebte die Menschen, und er liebte das Leben, er liebte es leidenschaftlich, und er verstand die Umwege und Irrwege der Seele, das machte ihn zu einem Anwalt, zu dem seine Klienten Vertrauen hatten. Bei jedem, der ihn kennenlernte, hinterließ er einen unauslöschlichen Eindruck. Ein
Lächeln huscht über seine Lippen: Sein Humor war unnachahmlich, er war ein Original. Und er war ein Mensch, sagt er mit abschließender Emphase auf Jiddisch, das vor allem, unbeugsam in seinem Gerechtigkeitssinn, ein verläßlicher Freund, ein liebevoller Vater. Ilana preßt sich die Faust an den Mund.
    Der Rabbiner verstummt, der Regen läuft ihm in Bart und Kragen. Er tritt auf Ilana zu und schneidet mit einer Rasierklinge in ihren Blusenkragen, reißt ihn bis zur Knopfleiste ein, auch Harolds Hemd wird eingeschnitten, er hat sich am Vortag das billigste Hemd in einem Discountladen gekauft, und er wird es sofort, wenn er ins Hotel zurückkommt, in den Papierkorb werfen.
    Und meine Mutter? fragt Ilana.
    Rabbi Schaefer sieht mich zweifelnd an. Hatte sie einen koscheren Übertritt?
    Ich bejahe.
    Soviel ich weiß, waren Sie geschieden, sagt er.
    Nicht nach der Halacha, insistiert Ilana, sie hat nie ein Get verlangt.
    In diesem Augenblick ist es mir sehr wichtig, daß Rabbi Schaefer meinen Kaschmirpullover ruiniert. Es bedeutet in meiner Vorstellung, die zu keinem geordneten Gedankengang werden will, daß wir zusammengehört haben, Jerome und ich, immer, vom Anfang bis zum Schluß, daß ich um ihn trauern darf als seine Frau und niemand mir das Recht darauf verweigern darf.
    Verzeihung, das wußte ich nicht, sagt der Rabbiner und setzt die Klinge an meinen Halsausschnitt.
    Der Regen rauscht und prasselt auf uns nieder, so hört auch niemand den dumpfen Aufprall der ersten Brocken Erde, vor dem ich mich gefürchtet habe. Jeder wirft eine Schaufel voll
Erde, ungeschickt, der Lehm gleitet ab, man kann den Sarg nicht mehr sehen. Rabbi Schaefer erspart uns nichts, keine einzige Schaufel voll, er wartet, bis die Erdwälle rund herum abgetragen und die Grube gefüllt ist. Nur wenige Männer wagen sich nach der ersten symbolischen Schaufel am Rand des Grabes unter ihren Schirmen hervor, um die anstrengende Arbeit der Totengräber zu übernehmen, wie es bei frommen Juden Brauch ist. Ilanas früherer Freund Peter, von dem sie sich vor zwei Jahren getrennt hat, tritt vor, ergreift entschlossen eine Schaufel und legt sie bis zum Schluß nicht mehr aus der Hand. Ilana zieht scharf den Atem ein, ihr Rücken bebt vom lautlosen Weinen. Ein anderer unterstützt Peter kurz, hört jedoch mit einem Blick auf seine

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