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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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Gesetz, das Recht auf Glück und Erfolg. Sie kommen wie Partygäste, grüßen kurz, murmeln ihren Namen, sie wissen ja, wer wir sind, ob wir sie kennen, ist ihnen egal, sie sind ja nicht unsere Freunde, sondern die Jeromes. Sie scharen sich um den Eßtisch und häufen Lachs und Reis auf ihre Teller, als seien sie zum Fastenbrechen am Jom Kippur gekommen, und plaudern mit denen, die sie schon vorher gekannt haben. Verwandte sind da, die ich in dreißig Jahren nur ein paarmal bei Begräbnissen gesehen habe, sie begrüßen Harold und Ilana und stehen abseits in einer Gruppe beisammen. Ich kenne Jeromes Verwandte aus seinen Geschichten, ich habe sie liebgewonnen durch die Anekdoten aus seiner Kindheit. Auch die meisten seiner Berufskollegen kenne ich aus seinen Erzählungen, und irgendwann kam es mir vor, als seien sie mir vertraut. Er erzählte mir von ihnen nicht nur zur Kurzweil, er vertraute meinem Rat, wenn es um Menschen ging, denn er selber hatte wenig Menschenkenntnis und ließ sich leicht belügen, er war so leicht entflammbar und ließ sich von jeder freundschaftlichen Begeisterung in die Irre führen, und er betrog sich selber, wenn es ihm das Leben angenehmer machte. Manche Vorfälle besprachen wir immer wieder von neuem, bis ich glaubte, ich hätte sie selber erlebt.
    Hi, sagt ein Cousin im Vorbeigehen, schön, daß du es geschafft hast zu kommen.
    Er gibt mir nicht genug Zeit zu antworten. Hat Jerome mich vor ihnen verleugnet? Seine Familie hatte mich abgelehnt, bevor sie mich kennenlernte, und später waren sie freundlich und distanziert, und ich akzeptierte es, erwartete nicht, daß ich
Leuten, denen keine Wahl blieb, als sich mit mir abzufinden, sympathisch war. Aber auch er hatte kaum Kontakt zu ihnen, sie waren einander fremd, er war andere Wege gegangen, gehörte einer anderen Bildungsschicht an. Es war uns beiden lieber, die Pessach-Seder und Thanksgiving zu Hause oder mit den wenigen Freunden zu feiern, die wir hatten. So waren die meisten Verwandten für mich Gegenstand von Anekdoten aus der Vergangenheit geblieben, ohne daß es jemals zu einem Zerwürfnis gekommen war.
    Wir lebten extraterritorial, und es war ganz und gar unser Land, weder Amerika noch Europa, jedoch von beiden etwas, zu fast gleichen Teilen. Manchmal, wenn Vorstellung und Wirklichkeit zu weit auseinanderklafften, sagte er: Am liebsten würde ich auswandern, meinst du, sie nähmen mich in der Sowjetunion, wenn ich um politisches Asyl ansuchte? Wir fanden die Vorstellung eines Amerikaners, der im Moskau des Kalten Krieges um politisches Asyl ansucht, immer wieder komisch. Europa war ihm von Anfang an vertraut gewesen, seine Mutter war 1934 mit ihrer Mutter und einer jüngeren Schwester aus Deutschland geflohen, und ihr Vater war kurz vor Kriegsbeginn über Umwege nachgekommen. Eine ältere Schwester, die bis zum Tod ihres Mannes in einer geschützten Ehe gelebt hatte, wurde in einem Konzentrationslager ermordet, hieß es. Seine väterlichen Großeltern waren aus Polen und der Ukraine nach Amerika eingewandert. Außer Grandma Ida hatte ich weder seine Eltern noch seine Großeltern gekannt. Jerome fühlte sich ebensosehr als Mitteleuropäer mit jüdischen Wurzeln, wie er sich als Amerikaner betrachtete, ein Amerikaner, dem die Lebensart der angelsächsischen Protestanten fremder war als die der Europäer.
    Wir schufen unsere eigene Sprache, aus dem Jiddischen
seiner Großeltern, der deutsch-englischen Mischsprache seiner Eltern, dem Vorstadtjargon seiner Jugend, den Literatursprachen, die wir beide liebten, in denen wir über Gefühle reden konnten, und der Genauigkeit seiner Berufssprache, die sich den Gefühlen widersetzte. Wir erfanden eine Sprache zwischen dem Englischen und dem Deutschen, die von beiden das enthielt, was zu uns paßte und uns gehörte, und wir bereicherten sie mit unserem privaten Wortschatz, den irrwitzigen Sprüngen seiner Phantasie, dem Doppelsinn aus Situationen, die nur wir beide kannten. Unsere Sprache war zärtlich und hintergründig, in ihr konnte man Tränen lachen und vor Rührung weinen und ganze Tage und Nächte reden. Aber sie läßt sich nicht übersetzen, nicht einmal für unsere Tochter. Dreißig Jahre hatten wir gebraucht, um unsere eigene Sprache zu erfinden, aber ich kann sie nicht allein weiter pflegen, sie wird zu einer toten Sprache werden, von der mir nur noch Zitate bleiben, deren Besonderheit niemand verstehen wird. Wer würde es witzig finden, wenn ich seine Sätze wiederholte, die aus

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