Wenn du wiederkommst
schmutzbespritzten Hosenbeine bald wieder auf. Peter steht auf dem Erdwall und schaufelt, als gelte es einen Wettbewerb zu gewinnen, grimmig und verbissen, ohne in unsere Richtung zu schauen, Regen und Schweiß rinnen ihm in den Kragen, in kurzer Zeit ist er durchnäßt.
Alles kommt mir unwirklich vor wie ein Drama, das sich auf einer Bühne abspielt. Habe ich Jerome denn nicht geliebt? Bin ich ein gefühlskalter Mensch? Was ist mit mir los, daß ich so taub und fühllos dastehe, während der Mensch begraben wird, der mein ganzes Leben begleitet hat, und ich denke nur, später werde ich es vielleicht einmal begreifen, für jetzt laß es einfach nur vorbei sein. Aber es nimmt kein Ende, als ob das Grab ohne Boden wäre und sich nie füllen ließe. Eine nicht mehr junge, schlanke Frau mit einem extravaganten Hut und grauem Designerkostüm drängt sich vor, die einzige mit einem Blumenstrauß, und wirft die Blumen in großem Bogen, als müsse sie sich ihrer schnell entledigen. Ich betrachte sie verstohlen, wer ist sie, wer hat sie eingeladen?
Der Augenblick des Entsetzens kommt unerwartet, als Peter
sich aufrichtet, die Schaufel in den Rasen rammt, und Rabbi Schaefer eine weiße Tafel in die lockere Erde steckt: Jeromes Name. Sein Geburtsdatum und das Todesdatum, der schreckliche, endgültige Schlußstrich unter ein Leben. Zwischen zwei Zahlen ein Bindestrich, das Leben, und danach nichts. An dem, was gestern und heute war, hat er keinen Anteil mehr, und was davor war, ist eine abgeschlossene Spanne Zeit. Zum erstenmal seit dem Augenblick, als mich unsere Tochter anrief, begreife ich es, als hätte man mir soeben erst die Todesnachricht überbracht. Als sei mein Leben eine Straße, die in einem unendlich langen Winkel auf eine andere zugelaufen ist, und nun, am äußersten Horizont, stoßen sie aufeinander und bilden ein Dreieck, und der Weg ist beendet.
Dann fordert Rabbi Schaefer Harold auf, Kaddisch zu sagen, aber Ilana fällt ihm ins Wort, Jitgadal ve jitkadäsch, schme rabbä, beginnt sie mit fester, fast triumphierender Stimme. Sie kann im Unterschied zu ihrem Onkel Hebräisch lesen, und jetzt sagt sie für ihren Vater Kaddisch, eine Tochter zwar, aber das einzige Kind. Rabbi Schaefers Miene verrät keine Mißbilligung. Er hat auch kein Wort darüber verloren, daß ich an einem Schabbat gereist bin und jetzt läßt er die Tochter Kaddisch sagen, bis sie in ein tränenloses Schluchzen ausbricht und sich nach vorn krümmt, dem Grab entgegen, als wolle sie sich hineinfallen lassen, als würde ihr jetzt erst bewußt, was hier vor sich geht. Wir sagen das Kaddisch gemeinsam zu Ende, schlägt Rabbi Schaefer vor. Er hat ein großes Herz für die Umwege, die das Gesetz manchmal machen muß.
Durch die Gasse, die die anderen für uns machen, verlassen wir den Friedhof, ohne zur Seite oder zurück zu blicken.
III
Schiwa -Trauerwoche
Der Lieferwagen des Catering Service steht vor der Tür. Das ist der Kompromiß zwischen amerikanischen und jüdischen Bräuchen. Der amerikanische Pioniergeist gebietet Gastfreundschaft: Wer an meine Tür klopft, muß freundlich auf genommen und reichlich bewirtet werden. Für die jüdischen Bräuche rund um den Tod zählen nur die Trauernden: Sie sollen von den Freunden versorgt und getröstet werden. Als Jeromes Großmutter starb, saß Jeromes Onkel Sidney, der einzige noch lebende Sohn, in Socken auf einem Schemel im Wohnzimmer, und die Trauergäste brachten zubereitete Speisen in Schüsseln mit, reichlich genug, daß Mahlzeiten für später übrigblieben, und gekochte Eier als Symbol für das Leben, das trotz allem weitergehen mußte. Sie saßen zusammen und sprachen über die Tote, schwiegen, wenn den Trauernden danach zumute war, versammelten sich verläßlich gegen Abend zum Mincha-Gebet, damit zehn Männer zum Kaddisch anwesend waren. Sie kamen und gingen ohne große Begrüßungs- und Abschiedszeremonien, sieben Tage lang, sie kümmerten sich um das Wohl der Familie, und es herrschte eine Atmosphäre von Zuneigung und Mitgefühl. Aber Grandma Ida hatte nur jüdische Freunde gehabt, Leute so alt wie sie, Einwanderer aus Osteuropa, die ihr Leben lang in den jüdischen Stadtteilen von New York und Boston gelebt hatten.
Jeromes Freunde sind Menschen, die als Protestanten, als Katholiken
oder als Juden aufgewachsen sind und sich Agnostiker und Atheisten nennen, Amerikaner, deren Bekenntnis allein die in der amerikanischen Verfassung festgelegten Artikel sind: Gleichheit vor dem
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