Wenn du wiederkommst
können, und sie nahm keine Rücksicht, sie ließ ihn auch noch einen Koffer voll Münzen tragen. Mir ist in diesem Augenblick noch nicht klar, daß sie es ja nicht wissen konnte, ich kann nur denken: Sie hat ihn umgebracht. Und wenn wir
doch zu Filene’s gegangen wären, und er wäre dort zusammengebrochen, wäre ich dann seine Mörderin?
Ich weiß nicht, ob Allison das Haus verläßt oder sich einer der herumstehenden Gruppen zugesellt. Ich gehe in die Küche und treffe auf Louise, meine Freundin und Rivalin. Sie hatte vor sechzehn Jahren eine Liebesbeziehung mit Jerome gehabt, und danach waren sie Freunde geblieben. Jerome war ein Sammler, er sammelte Münzen, Porzellan, Wein und Frauen, und was er einmal hatte, behielt er, manchmal achtlos auf dem Grund einer Truhe, deren Inhalt er selber nicht mehr kannte. Louise war eine Freundin der Familie geworden, der sich auch Ilana anvertraute, aber sie gab nie die Hoffnung auf, daß er sich eines Tages für sie entscheiden würde.
Im Spital haben sie mich behandelt wie seine nächste Angehörige, erzählt sie gerade, sie waren so fürsorglich und nett zu mir.
Auch sie wiederholt für jeden, der neu hinzukommt, ihren Augenzeugenbericht, wie sie um sein Leben gebangt habe und zugleich darum, daß er nicht als Pflegefall ende wie seine Mutter. Sie erzählt von der Ärztin, die sich bei ihr erkundigte, ob die Familie mit einer Organspende einverstanden sei. Ilana und ich sehen sie entsetzt an.
Du hast doch nicht? Das darfst du doch gar nicht! ruft Ilana.
Seine Hornhaut, er sollte seine Hornhaut spenden, aber dann hieß es, er sei zu alt und krank gewesen, sagt Louise den Tränen nah: seine blauen Augen, seine wunderbaren blauen Augen.
Wie kann man einen Mann geliebt haben und seine Augenfarbe vergessen, frage ich mich.
Er hat graugrün gesprenkelte Augen, genau wie ich, entgegnet Ilana ungeduldig. Sieh mich an, sind meine Augen blau?
Wer gibt dir das Recht, über seinen Körper zu bestimmen? frage ich sie gereizt.
Müssen wir diese Diskussion haben? fragt Louise zurück.
Ich sehe uns wie in einem Film in der Küche sitzen, in der die Reste der letzten Mahlzeit des Toten noch nicht beseitigt sind: Zwei nicht mehr junge Frauen, die beide glauben, einen Anspruch auf ihn zu haben, bebend vor Zorn, am Rand eines Streits über die Frage, wessen Eigentum er ist. Sie war die letzte von uns beiden, die ihn gesehen hat, wenn auch als Toten, das ist ihr Trumpf, den zu bereden sie noch lange nicht müde sein wird. Ist es denn ein so großer Unterschied, ob man die kalte Stirn eines Toten geküßt hat oder nicht? Wiegen fünf unddreißig Jahre nichts dagegen? Wie sehr ich sie um diese letzte Stunde und diesen letzten Kuß beneide. Wie verzweifelt ich wünsche, ich wäre an seinem Totenbett gestanden!
Er ist tot, sage ich, wir brauchen nicht mehr um ihn zu streiten. Er hat niemandem gehört, keiner von uns beiden.
Vor Jahren, als ich sie kennenlernte, klagte sie mir ihr Leid über ihr verpatztes Leben. Ich bin in dem Alter, sagte sie, in dem man seinem Sohn einen Tallit zu seiner Hochzeit schenkt, und mir wurde noch nie, nicht ein einzige Mal ein Heiratsantrag gemacht. Jetzt ist sie in dem Alter, in dem der Enkel, den sie nie haben wird, seine Bar Mizwa feiert. Wäre ich nicht selber so beraubt, könnte ich Mitleid mit ihr haben, wie sie am Küchentisch sitzt, eine übergewichtige Frau Anfang sechzig, die begonnen hat sich gehenzulassen, die Haare glanzlos von zu vielem Färben, die resignierten, bitteren Züge tragen noch immer Spuren ihrer früheren Schönheit. Um so hartnäckiger klammert sie sich an ihre gefälschte Erinnerung. Ich stehe abrupt auf, weil ich den Gedanken nicht ertrage, wie ähnlich wir uns sind.
Aber wohin soll ich mich zurückziehen? Ich kann mich nicht davonstehlen, weil ich hier wohne, und weil ich warten muß, bis sie Kaddisch gesagt haben und die letzten Trauergäste sich von den Angehörigen, zu denen ich in ihrer Wahrnehmung nicht zähle, verabschiedet haben. Jeromes auf Posterformat vergrößertes Foto steht auf dem Weinregal im Wohnzimmer und betrachtet mit sardonischem Grinsen sein Publikum. Und je mehr ich zuhöre, wie sie von ihm erzählen, desto fremder wird er mir. Er war sehr einsam, höre ich eine junge Frau sagen, die sich durch eine Anekdote als Anwältin zu erkennen gab, er hat sein ganzes Leben lang vergeblich nach einer ebenbürtigen Frau gesucht. Bestrafe sie, sage ich mit den Augen zu Jeromes vergrößertem Foto, laß einen Blitz
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