Wenn du wiederkommst
auf sie niederfahren. Laß nicht zu, daß sie mich so behandeln, flehe ich stumm sein Bild an, aber sogar das Gesicht auf dem Poster verschließt sich vor mir. Er gehört den andern, jedem auf eine andere Weise, so wie er sich jedem von ihnen anders dargestellt hat, denn im Grund seines Wesens war er Schauspieler gewesen, das war seine erste und eigentliche Berufung. Er hat diesen Beruf, der ihm bestimmt war, nie ausgeübt, aber eine so starke Begabung ließ sich nicht unterdrücken, sie drängte sich zwischen alles, was er tat, sie ließ ihn mitreißende Plädoyers im Gerichtssaal halten und als Verführer unwiderstehlich sein. Er brauchte ein Publikum, das er verzaubern und fesseln konnte, das machte ihn glücklich. Noch mit dem letzten Atemzug, bevor er bewußtlos zusammenbrach, hielt er es für notwendig, die anderen mit einem Witz zu unterhalten.
Aber anstatt ihn noch einmal, vielleicht das letzte Mal in den Mittelpunkt zu stellen, redet jeder von ihm mit diesem selbstgefälligen Besitzanspruch, der nur dem Sprecher selber einen zusätzlichen Glanz verleiht. Jeder der Anwesenden, die ihn
kannten, scheint das Gefühl zu brauchen, ihm besonders nah gestanden zu sein. Außer Ilana. Sie hat schweigend eine Collage von Fotos in einer Ecke des Wohnzimmers aufgebaut. Seit sie vom Spital hierherkam, muß sie in den zahllosen Schachteln und Alben die Fotos ihres Vaters ausgesucht haben, die sie am meisten liebt: Jerome und sie beim Entenfüttern an einem winterlichen Teich, und auf jedem Zweig im Vordergrund häuft sich eine schmale, luftige Schicht Schnee. Das Foto, auf dem er mit ihr als Zweijähriger auf den Schultern über den Strand trabt und sie sich an seinen Ohren festhält, weil er sich in diesem Sommer die Haare ganz kurz hatte schneiden lassen. Sie waren damals noch schwarz, jedes Haar ein an der Spitze gekrümmtes Häkchen, er hatte mir zuliebe gerade zwanzig Kilo abgenommen, und wir machten Späße über Ilanas schlankes Pferd mit seinem Persianerfell. Auf einem anderen Foto sieht man sie zwischen blühenden Bäumen, Jerome trägt ihren kleinen Anorak unterm Arm, und Ilana zerrt an seiner Hand und deutet auf etwas außerhalb des Bildes, auf das sie mit begeisterter Entschlossenheit zustrebt, die Kraft ihres kleinen Körpers, gegen die er sich stemmt, um nicht mitgerissen zu werden, gibt ihnen den Anschein, als wehe ein Windstoß sie den Weg entlang. Er ist so jung auf diesem Foto mit seinen Locken, die ihm ins Gesicht fallen und dem Ausdruck selbstvergessener Konzentration auf das unsichtbare, kindliche Ziel seiner Tochter. Ein Foto zeigt Ilana im schwarzen Talar nach der Graduierungszeremonie, den stolzen Vater an ihrer Seite, da war er bereits weißhaarig, aber er bestand weiterhin auf der Bezeichnung meliert, salt and pepper, als könnte er damit Tatsachen korrigieren. Aber sie hat auch Fotos ausgesucht, die mir wehtun, von ihr mit Jerome und Louise auf dem Parkplatz vor einem Restaurant, es ist Sommer, die beiden Frauen sind zurechtgemacht
wie für eine Feier und sie stehen als Familie beisammen, und alle drei lachen glücklich in die Kamera. Andere Fotos zeigen Jerome bei Parties, Frauen küssen ihn von rechts und links auf die Wangen, Jerome mit erhobenem Weinglas in seiner Siegerpose, Jerome an einem Tisch im Gespräch. Manche dieser Fotos sind ohne Zeit und ohne Ort, sie sagen mir nichts, und ich weiß nicht, wie nahe ihm die Menschen auf ihnen waren, vielleicht stehen sie zufällig nebeneinander, für einen kurzen Augenblick, und nur auf dem Foto sind sie für eine Ewigkeit zusammen. Wer ist die Frau mit den hüftlangen Haaren, die sich lachend an Jerome schmiegt? Es ist etwas Unwirkliches, Bedrückendes und gleichzeitig folgenlos Zufälliges an diesen Fotos.
Solange wir uns in Liebe an ihn erinnern, ist er nicht tot, hat Ilana als Motto auf den oberen Rand ihrer Collage geschrieben. Sie braucht niemandem beteuern, wie sehr er sie geliebt hat, und sie braucht sich nicht zu fragen, ob ihm die anderen Personen auf diesen Fotos mehr bedeutet haben, sie ist die einzige, die nicht den geringsten Zweifel an seiner Liebe hegen muß. Ein Foto hat sie auf der Collage nicht mehr untergebracht und in einen separaten Rahmen gesteckt, es ist ein Schnappschuß, aber es erscheint fast wie ein Doppelporträt und muß eine der letzten Aufnahmen von Jerome sein. Darauf sitzen sie beide nebeneinander auf einer unsichtbaren Mauer, hinter ihnen liegt hell und dunstig die mittägliche Bucht und in der Ferne kann man
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