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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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Trotz der Trennung haben wir jede Minute dieser fünfunddreißig Jahre zueinander gehört, möchte ich beteuern, aber ich schweige, weil ich zu begreifen beginne, daß weder mein Schwager noch die andern Trauergäste meine Ansicht teilen würden. Jerome kann ich nicht als Zeugen anrufen, und vielleicht würde auch er alles ganz anders sehen, vielleicht schlossen seine Träume mich nicht mehr ein. Je älter er geworden war, desto mehr hatte er sich an die Vorstellung geklammert, daß er sein Leben noch einmal von vorn beginnen könnte und diesmal ohne Makel, wenn er nur kühn genug wäre.
    Schau, was ich gefunden habe, sagt Harold versöhnlich, und zeigt mir ein altes Gebetbuch, dessen Einband aus getriebenem Silber mit Türkisen und Perlen eingelegt ist, eine wertvolle Handarbeit. Ich schlage es auf, es ist auf Hebräisch und Deutsch, von seiner und Jeromes Mutter.
    Nimm, sage ich kleinlaut, nehmt euch, was ihr findet. Dann erst fällt mir ein, daß Ilana kein geringeres Recht auf das Erbe ihrer Großmutter hat als ihre Verwandten.
    Er hält es mir hin: Ich habe keinen Sinn für Religiöses. Ein Friedensangebot, das mich beschämt.
    Ich möchte, daß du Jeromes Klientin Allison kennenlernst, sie kann dir von seinem Kollaps im Münzengeschäft erzählen. Mit diesen Worten stellt mir Leslie die schlanke Frau im grauen Designerkostüm vor, die den Blumenstrauß geworfen hat. Eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mit einem ebenmäßigen, scharf geschnittenen Gesicht, herausfordernd und kühl, vor der sich Männer vermutlich nicht gern eine Blöße
geben. Sie hat das Va Va Vou, würde Jerome sagen. Sie ist größer als ich, auch er muß zu ihr aufgesehen haben. Er liebte es, mit großen Frauen auszugehen, es gab ihm ein Gefühl von Macht. Ich schaue in ihre dezent geschminkten Augen. Sie war die letzte, die ihn am Leben sah.
    Sie berichtet routiniert, bestimmt hat sie die Geschichte schon oft erzählt: wie er sie in Brookline abgeholt hat, er sei unwirsch gewesen, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, habe er gesagt, als sie nach dem Safeschlüssel suchte.
    Wie wahr, sinniert Leslie.
    In Downtown Boston hätten sie lange einen Parkplatz gesucht und die Münzsammlung aus dem Banksafe geholt, von da seien sie zur Bromfield Road gegangen, zirka drei, vier Häuserblocks, bei zügigem Tempo eine Viertelstunde. Drinnen hätte er den Koffer mit den Münzen auf den Tisch gelegt und noch einen Witz gemacht, bevor er sich an einen Stapel Kartons lehnte und zusammensackte. Der Krankenwagen sei in drei Minuten dort gewesen, es sei alles sehr schnell gegangen. Man habe sie weggedrängt, sie solle nicht im Weg stehen. Auch jetzt ist sie noch aufgekratzt, ein wenig atemlos, fast freudig, weil sie etwas zu berichten hat, das nur sie aus erster Hand weiß.
    Sie haben fünfzehn Minuten im Laufschritt zurückgelegt, während er Ihren Koffer schleppte? rufe ich entsetzt.
    Sie reckt sich, als wolle sie auf ihre schlanke Figur aufmerksam machen: Wir sind nicht gelaufen, es war ein angenehmer Morgenspaziergang, ich habe eine gute Kondition, aber es war keineswegs anstrengend.
    Haben Sie nicht bemerkt, daß er nach Luft rang, haben Sie nicht gesehen, welch große Anstrengung dieser Marsch für ihn war?

    Er war zu dick, nicht wahr? Es ist nicht gesund, dick zu sein, er machte einen sehr unsportlichen Eindruck.
    Er war vor allem krank, sage ich.
    Kurz vor Jeromes Tod war Filene’s, das älteste Kaufhaus von Downtown Boston, von Macy’s übernommen worden, und der Totalabverkauf hatte begonnen.
    Weißt du, daß Filene’s zusperrt? fragte ich im Lauf unseres letzten Nachmittags im Public Garden. Ich habe einen wunderschönen Pelzmantel dort gesehen, um achtzig Prozent verbilligt.
    Wieviel kostet er jetzt? wollte Jerome wissen.
    Noch immer zweitausend.
    Dann komm, sagte er, wir sind ja ganz in der Nähe, nur vier, fünf Häuserblocks, es bleibt noch Zeit. Ich kauf ihn dir, jetzt gleich, und nächstes Mal, wenn du wiederkommst, hängt er schon im Schrank.
    Ich hielt ihn zurück. Nicht jetzt, es ist mir auch nicht so wichtig.
    Wenn ihn schon die paar Schritte vom Hotel zu dieser Parkbank so große Anstrengung gekostet haben, dachte ich, das schafft er nicht, den ganzen Hügel hinauf bis zur Washington Street. Das bringt ihn um, dieses Risiko ist kein Mantel wert.
    Vielleicht ist er ja noch da, wenn ich wiederkomme, sagte ich.
    Vier Häuserblocks, in zügigem Tempo eine Viertelstunde. Nun war es eine andere gewesen, ich habe ihn nicht davor bewahren

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