Wenn du wiederkommst
die blauen Bürotürme von Downtown Boston erkennen. Ilana blickt mit ihrem verschmitzten Grübchenlächeln und einer gelösten Heiterkeit zu Boden, aber als ich Jerome näher betrachte, erschrecke ich vor den Spuren des nahen Todes in seinem Gesicht. Er sitzt zusammengesunken da, als reiche seine Kraft nicht aus, den Körper aufrecht zu
halten, die Gesichtzüge zerfließen in einer hilflosen Müdigkeit, und sein stumpfer Blick sagt ohne Lächeln: Laßt mich in Ruhe, ich kann nicht mehr. Warum haben wir uns bloß seine Fotos der letzten Monate nicht genauer angesehen, wenn wir schon an ihm selber keine Veränderung erkennen konnten?
Ich höre Leslie sein unermüdliches Glaubensbekenntnis an seine eigene Wichtigkeit intonieren: Louise und ich waren als einzige an seinem Totenbett zugegen und durften seiner Tochter Trost und Stütze sein.
Schick ihn weg, sage ich zu Jeromes Foto, schick sie alle weg. Wenn die Gäste bis auf den letzten gegangen sind, denke ich, werde ich ihm alles erzählen, was er versäumt hat, und kein Detail auslassen, schließlich geht es um ihn. Wir werden jeden Besucher einzeln kommentieren, und am Ende werden wir verstehen, warum ihr Selbstbild durch seinen Tod so heftig erschüttert wird. Ich fühle mich wie seine Stellvertreterin, die ihnen keine Lüge durchgehen lassen darf. Wenn du wüßtest, denke ich und starre Leslie feindselig an, was uns zu dir alles einfallen würde, und ich stelle mir Louises Gesicht vor, wenn ich ihr sagte, daß Jerome sie manchmal Lady Nilpferd oder Gräfin Zeppelin genannt hatte.
Herb ist nicht hier, fällt mir plötzlich auf, er war auch nicht beim Begräbnis, sein bester, ältester Freund seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. Sie waren schon in der Highschool unzertrennlich gewesen, hatten beide Jura studiert und sich ein Studentenzimmer geteilt. Herb galt als Genie, bis zu dem Skandal, als er den Richter beschimpfte und einen Zeugen am Kragen packte und schüttelte. Posttraumatisches Streßsyndrom lautete die psychiatrische Diagnose, aber es blieb unklar, von welchem Streß die Rede war. Er zog sich zurück, auch von Jerome, als gäbe er ihm die Schuld für seinen Sturz
vom Staranwalt zum Supermarktgehilfen, der an der Kassa eines Vorstadtsupermarkts die braunen Papiersäcke mit Lebensmitteln füllte. Er hatte mich nie gemocht, ich sei selbstsüchtig, auf meine Freiheit bedacht, ich käme und ginge, wie es mir beliebte. Aus seiner Sicht hatte er recht. Er war mir aus dem Weg gegangen, und ich war erleichtert gewesen, als der störende Einflüsterer aus Jeromes Leben verschwunden war. Aber sein Verschwinden beraubte Jerome der lebendigen Gegenwart seiner Jugend, sie hatten miteinander so ausgelassen sein können, auch sie hatten ihre Privatsprache und eine Vertrautheit, wie sie nur aus fünfzig Jahren Freundschaft wachsen kann. Manchmal stand Jerome neben dem Telefon, ich fing seinen verletzten, verständnislosen Blick auf und wußte, er hatte wieder vergeblich angerufen. Herb nahm seine Anrufe nicht mehr an, er hob nicht ab und Jerome hatte aufgegeben, Nachrichten zu hinterlassen. Er war überzeugt, Herbs Schweigen müsse auf einem Mißverständnis beruhen, eine lebenslange Freundschaft könne nicht so einfach ohne Erklärung zu Ende gehen. Vielleicht schämt Herb sich, mutmaßte ich, aber das konnte Jerome sich nicht vorstellen, daß jemand, den er als Zehnjährigen gekannt hatte, dessen Zeuge aller Streiche und Peinlichkeiten seit der Pubertät er gewesen war, sich vor ihm schämen konnte. Er war nicht einmal bei deinem Begräbnis, möchte ich Jerome sagen. So vieles ist geschehen, das ich mit ihm besprechen möchte, auch daß das postergroße Foto von ihm mir überhaupt nicht gefällt. So stehe ich am Rand der Trauergesellschaft und rede mit ihm, den sie im Lauf des Nachmittags allmählich vergessen, und drifte immer weiter von ihnen weg.
Erst, als es bereits dunkel wird, stürmt Peter herein, außer Atem, erhitzt und dampfend vor Nässe, und ich bin sofort
grundlos erleichtert. Komm ich zu spät fürs Kaddisch? fragt er statt einer Begrüßung. Ich bedanke mich dafür, daß er das Grab fast ohne Hilfe zugeschaufelt hat. Es war eine Mizwa, sagt er herzlich und wendet sich an die andern Gäste.
Bevor wir jetzt dann Mincha beten, möchte ich noch etwas sagen, verkündet er, und alle schweigen und schauen zu uns her. Nur Ilana zieht sich in die Küche zurück. Ich bin wegen Jerome gekommen, sagt er, weil er wie ein Vater zu mir war. Als ich aus Virginia in den
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