Wenn du wiederkommst
Norden kam, erzählt er, fühlte ich mich hier sehr fremd, ich war total verloren, das ganze Jurastudium war ein Irrtum. Ich hatte eine richtige Krise. Damals unterrichtete Jerome einen Abendkurs an der juridischen Fakultät der Boston University. Ich mußte ein Referat halten und war nicht vorbereitet. Vermutlich wollte ich auffallen, ich war noch ziemlich unreif, aber ich spielte damals ernsthaft mit dem Gedanken, mich umzubringen, jedenfalls habe ich einen Selbstmord inszeniert. Ich hatte eine Rasierklinge, und im Ärmel hatte ich einen Farbbeutel, den ich im richtigen Augenblick anritzen wollte. Er demonstriert seine Tat, indem er eine fiktive Klinge zückt und seinen linken Ärmel vom Handgelenk zurückschiebt. Aber es gelang mir nicht, sagt er mit einem bedauernden Grinsen, und ich schnitt mir statt dessen tatsächlich ins Handgelenk. Es war eine ziemlich blutige Angelegenheit, aber Jerome geriet nicht aus der Fassung, er entließ die Klasse und fuhr mit mir ins Spital und wartete, bis ich verarztet war. Von da an nahm er sich viel Zeit für mich, auch daß ich Drehbuchautor geworden bin, verdanke ich ihm, ohne ihn wäre ich vermutlich gar nicht mehr am Leben, er war mein bester Freund. Plötzlich weiß ich, was mir an Leslies Behauptung, er sei Jeromes bester Freund gewesen, so anmaßend erschienen war. Peter ging nicht davon aus, daß Jerome außer
ihm keine Freunde gehabt habe, er trauert lediglich um seinen eigenen besten Freund.
Nun kann er nicht mehr weiterreden, er wendet sich ab und weint hemmungslos, und wir drängen uns um ihn und umarmen ihn, sogar die gehemmte Emily hat Tränen in den Augen. Er hat es sich als einziger erlaubt, seine Gefühle zu zeigen und seine Trauer auszusprechen, und wir sind ihm dankbar. Die angespannte Atmosphäre des ganzen Nachmittags hat sich aufgelöst, und die Erleichterung, die sein Gefühlsausbruch bewirkt hat, versöhnt uns. Auf einmal sind wir fast eine Trauergemeinschaft, und Peter steht im Mittelpunkt und verdrängt Jeromes selbsternannte beste Freunde. Nur meine Tochter bleibt verschwunden. Ich kann sie trotz meiner Auf wallung von Zuneigung gut verstehen. Peter eignet sich besser zum Schwiegersohn als zum Lebenspartner.
Die Männer sagen Kaddisch. Sie stehen um die hohe Kerze, das Seelenlicht, das Ilana angezündet hat, als wir nach Hause kamen. Es wird eine Woche lang immer tiefer in das blaue Glas hinunterbrennen. Was war es, frage ich mich, das Peter, dieser liebenswürdige Chaot, den meine Tochter nicht mehr will, durch sein Erscheinen verändert hat? Etwas, das an Jerome erinnert, sein Talent als Entertainer, seine Offenheit, daß er in dieser auf Zurückhaltung bedachten Gesellschaft keine Scheu vor Gefühlen hat, und auch seine vertrauensvolle Arglosigkeit. Ich sehe ihn an, wie er mit den anderen Kaddisch sagt, mit seinen wilden Locken und den ein wenig zu vollen Lippen, trotz seiner fast vierzig Jahre das Gesicht eines rebellischen Jünglings. Er erinnert mich an Jerome, als seine Haare noch dunkel waren und seine Augen noch vor boshaftem Übermut sprühen konnten, er gleicht ihm auch in der kindlichen Überzeugung, daß man ihn einfach lieben müsse.
Von Peter muß ich dir erzählen, sage ich zu Jeromes Foto, wie er von dir gesprochen hat, mit so viel Liebe, das wird dich freuen, aber jetzt verstehe ich auch, warum er für Ilana nicht der Richtige war. Er wird immer ein Kind bleiben, das einen Vater sucht.
Es ist halb elf, und ich habe nun drei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen. Ich sehe die Trauergäste gestochen klar in einem eisigen Licht an uns vorbeidefilieren, uns im Flur die Hände schütteln, ich sehe, wie sie sich um bedeutsame Abschiedssätze und einen ernsten, mitfühlenden Gesichtsausdruck bemühen, nicht unseretwegen, sondern um sich selber zu beweisen, daß sie in jeder Situation eine gute Figur machen. Ich kenne die meisten von ihnen auch nach den endlosen Stunden, die wir zusammen verbracht haben, nicht, aber jeder von ihnen hat zweifellos Erfahrungen auf allen möglichen Gebieten, sie haben angesehene Berufe, sie führen Ehen, haben Kinder erzogen, Häuser gekauft und eingerichtet, sie schließen Verträge ab, finden bei Empfängen und Dinnerparties die richtigen unverbindlichen Sätze, können geläufig zu Festtagen einen Toast ausbringen und gute Laune verbreiten. Warum sind sie so schlecht vorbereitet, wenn jemand in ihrer Umgebung stirbt? Ich weiß nicht mehr, wer diese Menschen sind, selbst jene, die ich seitJahren kenne.
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