Wenn du wiederkommst
Juden war mir weder fremd noch neu, die Frage war nicht gewesen, ob ich mir ein jüdisches Leben vorstellen konnte, sondern wie ich das Gefühl der Zugehörigkeit in eine Tatsache verwandeln konnte, der lange Weg dorthin, die Jahre des Lernens und die Frage, ob ich das Recht dazu hätte. Ich kannte die Argumente, die man gegen mich anführen würde, ich hatte sie eins nach dem anderen bedacht und verworfen: ich wolle mich als Opfer ausgeben, ich wolle etwas Besonderes sein und mir den Status der Unangreifbarkeit erschleichen, ich wolle einer schuldbeladenen Herkunft entfliehen, ich wolle in der Tradition Zuflucht suchen, um Eigenverantwortung abzugeben, ich wolle mir Zugehörigkeit erzwingen. Ich hatte die Vorwürfe, noch bevor sie irgend jemand aussprechen konnte, geahnt, ich hatte jeden einzelnen erwogen und meine Aufrichtigkeit geprüft, dafür hatte ich während der langen Vorbereitung ausreichend Zeit. Dreimal muß man abgewiesen werden, heißt es, damit man seine Beweggründe prüfen könne und die Gewißheit habe, daß man unwiderruflich als Jude leben will, dreimal wird man weggeschickt, um seine Standfestigkeit zu beweisen. Aber das hatten wir nicht gewußt. Beim zweiten Mal versuchte Jerome mir den Weg zu ebnen, aber das Gespräch mit ihm hatte dem Rabbiner genügt, uns beide abzuweisen, ein säkularer Jude, der nicht einmal weiß, wann Tischa be’Av ist, und von Kaschrut
nichts wissen will, wie sollte daraus eine jüdische Ehe werden? Er schlug ein Buch auf, in dem jedes Konzentrationslager Europas mit einem Magen David gekennzeichnet war, ein dichtes Netz von gelben Sternen. Ich weiß davon, sagte ich. Das ist Ihr Erbe, sagte er, das ist es, womit Sie sich beschäftigen müssen. Ich habe seit meiner Jugend nichts anderes getan, verteidigte ich mich. Ich wußte, daß ich auf kein Geburtsrecht pochen konnte, daß ich mich weder auf die frühen Traumata noch auf die Magie von Kindheitserinnerungen berufen und sie mit Jerome teilen konnte. Ich ahnte auch, daß ich immer wieder meine Rechtmäßigkeit würde beweisen müssen und daß mir ein Leben lang die Scham als Hypothek gegenwärtig bleiben würde. Danach hörte Jerome auf, darüber zu reden. Laß, sagte er, ist nicht so wichtig, für mich hast du eine jüdische Neschume, und das Kind wird sich später einmal entscheiden. Erlaube niemandem, dich Schickse zu nennen, schärfte er mir ein, es ist kein Kompliment und auch kein gutmütiger Scherz. Er habe mich schützen wollen, sagte er später, er habe mir Demütigungen ersparen wollen. Aber ich wollte nicht andere über mein Leben entscheiden lassen, nicht einmal einen Rabbiner, der mich doch nicht kannte. Ich hatte nur dieses eine Leben, und ich wollte tun, was notwendig war und geschehen mußte. Der dritte Rabbiner hörte mich an und nahm mich als Schülerin auf.
Es war eine unerklärliche Scheu zwischen uns an jenem Abend, als wir im Auto nebeneinandersaßen und Jerome versuchte, seine Tränen zu verbergen.
Wie heißt du jetzt, fragte er.
Michal, sagte ich.
Das ist ein verstümmelter Männername, warum nicht Ruth, Judith, Sarah, Rebecca, Deborah, Lea, Rachel?
Alle Namen waren bereits besetzt, es war auch keine der Stammütter mehr frei, nicht einmal Zipporah. Michal bedeutet übrigens: Wer ist wie Gott?
Ein Gebet statt eines Namens, das sieht dir ähnlich. Dann bleiben wenigstens die verständlichen Namen für unsere Tochter.
Es wird ein Sohn, erklärte ich: Daniel.
Wo du schon beim Namenändern bist, was hast du gegen meinen Familiennamen? fragte er, nicht zum erstenmal.
Nichts, sagte ich, aber ich hab schon einen.
Das konnte er nicht verstehen, und ich konnte ihm den Unterschied nicht erklären. Jerome hat mich nie ohne leichte Ironie bei meinem jüdischen Namen genannt, wenn er es tat, was selten geschah, dann immer im Ton gutmütigen Spottes, unter Anführungszeichen, fragt doch unseren Chochem hier, unsere Michal. Er mußte nichts beweisen, er besaß ohne Anstrengung, was ich anstrebte und wofür er selten Verwendung hatte, er wußte nicht einmal, was er besaß, aber es waren die Dinge, die ich am meisten an ihm liebte, seinen Sprachrhythmus, die jiddischen Ausdrücke, die sich wie selbstverständlich in seine Sätze mischten, und die Melodie dieser Sätze, seine Gestik und seine Körpersprache, sein ganz und gar eigenwilliger, respektloser schwarzer Humor, sein Erfindungsreichtum und seine Lebensfreude und etwas unbenennbar Atmosphärisches, das ihn für andere Juden als zugehörig
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