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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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kenntlich machte, und auch, in Rabbi Schaefers Worten Zedaka ve Chessed, kompromißloses Rechtsempfinden und die Bereitschaft, sich vom Leid anderer berühren zu lassen. Sein soziales Gerechtigkeitsgefühl nahm zu, je älter er wurde, und die Hartnäckigkeit, mit der er sich für die hoffnungslosesten Versager ohne Aussichten auf ein Gelingen und ohne Honorar von Instanz zu Instanz
quälte, hatte eine absurde Tragik. Es war keine Herablassung in seiner Zuneigung für streunende Katzen und vom Schicksal zerzauste Menschen, er hatte keine andere Wahl, als sich ihrer anzunehmen.
    Es blieb eine Handvoll Gutmütiger, die mir den Gefallen taten, mich ohne Spott und Zweifel Michal zu nennen. Aber auch er hieß ja nicht Jeremia, es waren Geheimnamen, ein Code für die wichtigen Ereignisse des Lebens. Das Kind wurde kein Sohn, sondern Ilana, und ihretwegen ließ sich der agnostische Lästerer Jerome die Rückkehr in einen Alltag gefallen, den er als Jugendlicher zusammen mit seinem Elternhaus zurückgelassen hatte, zumindest bis sie mit siebzehn Jahren auszog.

    Solange ich in der Schiwa-Woche von Menschen umgeben gewesen war, hatte ihre Anwesenheit mich von mir selbst getrennt. Ich hatte mich zwingen können zuzuhören, ich hatte sogar lachen können, sie hatten mich nur daran gehindert, klar zu denken, und ich hatte mich danach gesehnt, allein zu sein und die tröstliche Wärme der reinen Trauer ohne Bitterkeit und ohne Zorn zu spüren. Ich hatte mir vom Alleinsein etwas wie eine Rückkehr in die alte Geborgenheit zu zweit erwartet. Jetzt ist niemand mehr da, der mich von der ersehnten Schwermut ablenkt, wie ich sie bei Witwen oft beobachtet habe, eine Wollust der Trauer, in der sie sich auf Jahre einrichten. Die alten Schallplatten, die wir vor dreißig Jahren gekauft und selten gehört hatten, geben mit ihrem durch die Feuchtigkeit von Jahrzehnten verzerrten Klang der Stille etwas Unheilvolles. Wie soll man in diesem Schweigen überleben? Die Stille ist wie ein Gift, das mich betäubt und lähmt, sie übertönt
jede Musik, die Dielenbretter knarren bei jedem Tritt und lassen die Nadel des Plattenspielers Rillen überspringen, die Zeit dreht sich stur und mißtönend um die eigene Achse, und im Zentrum des Stillstands liegt der Tod, da kann ich mich ablenken, mit welchen Andenken ich will. Es regnet noch immer den ganzen Tag, so gleichmäßig plätschert der Regen in die Abflüsse und Regenrinnen, daß es mir vorkommt, als stünden Menschen vor der Tür und ihre Stimmen vermischten sich mit dem Regen. Aber niemand kommt. Im Leben der meisten Menschen, die vor einer Woche in unseren Räumen aßen und redeten, war dieser Abschied eine Episode, die sie bald vergessen werden, vielleicht schon vergessen haben.
    Die Nacht folgt auf die lange Dämmerung über dem Fluß, und sie erscheint mir wie eine natürliche Todesfolge, als habe meine Trauer sich verdichtet und das Licht verdrängt. Ohne Erinnerung daran, was ich gerade noch getan habe, stehe ich mitten im Wohnzimmer und frage mich, wohin mit mir? Wofür ist dieses Leben noch gut? Wo wir doch nie wieder zusammen alt werden können in diesem Haus. Wie ein Esel, der in ein Joch gespannt im Kreis geht, begreife ich es nicht, begreife nicht, daß es nichts nützt, im Kreis zu gehen, damit alles wieder so wird wie früher. Ich steige immer noch hinunter an der Hand des Todes, Stufe um Stufe. Nach der Abwehr, dem sich Aufbäumen und der Wut folgt die Betäubung, in der ich weder schlafe noch esse, nie weiß, wie spät es ist, denn die Zeit, in der ich verharre, ist eine andere als die Gegenwart. Ich halte still, ganz auf den Widersacher fixiert, der sein Opfer nicht hergibt, noch immer mit einer Spur absurder Hoffnung, daß ich am Ende entschädigt werde, wenn schon nicht durch Jeromes lebendige Gegenwart, dann vielleicht durch ein Zeichen, das er mir geben wird, ein unmißverständliches Zeichen, daß
er mich nicht verlassen hat. Er wird einen Weg finden, es mir mitzuteilen, daß er mich liebt. Ich begreife auch, daß Trauer das falsche Wort für diesen Zustand ist, in dem ich mich befinde. Sehnsucht ist es, was mir auf Brust und Zwerchfell drückt, daß ich kaum atmen kann. Gibt es das? Herzschmerz, als Zustand, nicht als peinliche Metapher, die man in schlechten Gedichten findet? Gleichzeitig wünsche ich mir, daß dieser fruchtlose Schmerz nicht nachläßt, er ist das einzige Lebendige in mir. Wenn er aufhört, beginne ich zu vergessen, und dann wird eines Tages etwas anderes

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