Wenn du wiederkommst
das Zentrum meines Denkens ausfüllen, genau wie die Trauergäste es gefordert haben: genug getrauert, das Leben geht weiter, nichts festhalten, den Toten ruhen lassen. Ich will Jerome mit der gesammelten Kraft meines Denkens daran hindern, ins Ungreifbare zu versinken. Schon jetzt kann ich manchmal seine Stimme nicht mehr hören, seine Gestalt wird undeutlich, sie verzerrt sich, wenn ich versuche, sie zu bannen. In ein oder zwei Jahren wird meine Haut seine Berührung vergessen haben, und die Vertrautheit, mit der die Grenzen zwischen uns sich in Augenblikken der größten Nähe auflioben, wird unvorstellbar geworden sein. Ihn zu vergessen ist meine größte Angst.
Irgendwann setze ich mich seinem leeren Stuhl am Eßtisch gegenüber, so wie wir einen großen Teil unseres Lebens einander gegenüber gesessen sind, beim Frühstück, an Wochenenden bis spät in den Vormittag, an Freitag abenden bis nach Mitternacht, und beginne mit ihm zu reden, zähle auf, was wir einander schuldig geblieben sind und was ich rückgängig machen möchte, ich sage, komm zurück, die wichtigsten Dinge sind unerledigt, unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende, sie hat gerade erst begonnen, und es ist zu vieles offen, ich weiß ja nicht einmal, ob du mich liebst. Dann werde ich wütend, was
wir nicht lieben, verraten wir, werfe ich ihm vor. Ich möchte, daß du weißt, wie sehr ich dich liebe, flehe ich. Aber es funktioniert nicht, unsere Gespräche sind ein für allemal verstummt, er wird meiner Phantasie zu keinen neuen Ideen mehr verhelfen. Ich sehe das ironische Blitzen in seinen Augen, ein belustigtes Zucken um seine Mundwinkel, bevor er mir mit einem trockenen Witz die Lächerlichkeit meiner Pose vorhält, den wissentlichen Selbstbetrug, vor einem leeren Stuhl zu sitzen, ihn anzureden, als säße er leibhaftig da, und eine Antwort zu erwarten. Hör auf, den Mond anzuheulen, hätte er gesagt, denk an die Vorteile, wenn ich erst einmal unter der Erde bin, du brauchst nie wieder hinter mir aufräumen und dich beklagen, man käme nur noch auf Stelzen durch diesen Flur. Aber auch seine Witze sind nicht mehr unterhaltsam. Ich wache eifersüchtig darüber, daß niemand meine Monologe stört, erlaube mir nicht die geringste Abschweifung meiner Gedanken, damit er mir nicht verlorengeht, ich will ihn mit meiner ganzen Konzentration daran hindern, sich zurückzuziehen. Die Symphonien und Arien unserer alten Schallplatten versetzen mich in eine Trance, die mich von mir selber weg immer tiefer in Wachträume hineinführt. Schlafentzug und die Unmöglichkeit, Nahrung zu mir zu nehmen, verwirren mir die Sinne, die Töne schlagen wie Wellen aus Licht und Farben über mir zusammen, ein magisches Blau, wie auf den letzten Seerosenbildern von Monet, über einer schlammigen, lichtlosen Tiefe, sekundenlange überklare Splitter von Erinnerungen, die ich nicht zuordnen und nicht im Gedächtnis behalten kann, keine tröstlichen Bilder, sondern quälende Augenblicke vergangenen Versagens, zornig, hämisch und voller Schuld, am Ende das Verklingen eines einzelnen Tons, als würde ein Dorn aus dem Fleisch gezogen. Es ist eine verzweifelte Totenbeschwörung,
die immer von neuem bei seinen letzten Stunden ansetzt, dort, wo der Faden gerissen ist.
Das Telefon bricht in die Stille ein wie eine Detonation, und ich frage verwirrt: Wie spät ist es? Eine junge Frau von der Friedhofsverwaltung meldet sich und erklärt mir mit beherrschter Ungeduld, ich hätte die Möglichkeit, die beiden Gräber neben Jerome zu kaufen, aber nur noch für kurze Zeit, eine Woche etwa, dann würde ich von der Warteliste gestrichen. Nein, sage ich, ich kann jetzt nicht daran denken, ich kann jetzt nichts entscheiden, ich flehe um Aufschub, meine Tochter ist doch erst dreißig und ich... Ich verstumme, weil das die junge Frau am anderen Ende nicht interessiert, sie will zwei Immobilien verkaufen, solange die Trauernden noch unter Schock stehen und ihrem Verstorbenen nicht nah genug sein können. Für die Ewigkeit. Ein Grab ist sicherer als ein Haus, es kann nicht abgerissen werden und nicht verbrennen, es darf nach jüdischem Gesetz auch nicht aufgelassen werden. Der Stein mag verwittern, die Inschrift unleserlich werden, die Gebeine warten, Seite an Seite, bis der Messias kommt.
Können Sie mir die Telefonnummer Ihrer Tochter geben, fragt sie nachsichtig, so als wolle sie sagen, kann ich mit einer zurechnungsfähigen Person reden?
Sie kommt am Freitag, antworte ich. Nur noch drei
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