Wenn du wiederkommst
Mutter, zwei Teller mit verblaßtem Goldrand, und ich sehe den gedeckten Tisch vor mir, das ferne Urbild eines festlichen Tisches, mit dem sich keine unserer unzähligen Mahlzeiten
im Lauf der Jahrzehnte messen konnte, weil seiner Sehnsucht nichts vollkommen genug war, die Festtagstische seiner Kindheit, die Teller mit den grünen Ranken, zu Rosch ha-Schana mit Schmorbraten und gefiltem Fisch beladen, der ovale Vorlegeteller mit Truthahnstücken und lockerer Semmelfülle zu Thanksgiving, überlebensgroß wie das Stilleben über dem Küchentisch, eine Karaffe Wein, Trauben, Äpfel, funkelnd vom Reif der Frische, keine Wirklichkeit kann davor bestehen. Die Kindheit war kein Abschnitt in seinem Leben, sondern das Paradies, das jede neue Frau verhieß und an dem jede scheitern mußte. Das Geschirr, die Möbel seiner Eltern, die gedrechselten Tischbeine und Stühle, der Abakus an der Wand, die ganze für die Ewigkeit eingerichtete Gemütlichkeit, in der ich nie einen festen Platz fand. Während der Schiwa-Woche nahm Harold manchmal einen Gegenstand in die Hand. Der Kerzenständer ist von meiner Mutter, sagte er gerührt, und sogar ihre Sauciere ist noch da, sein Blick richtete sich auf eine Vergangenheit, die ich nie kennen werde und über die die beiden Brüder sich nicht einig waren. Großvaters große Sanduhr, staunte er, die gibt es noch? Und einmal sagte er leise mit einer Spur Bitterkeit: Jerome hat sich doch alles unter den Nagel gerissen. Die gedrechselten Möbel aus Hartholz, den Abakus, das Geschirr, die Sanduhr, werde ich nicht anrühren. Soll Harold sie abholen lassen. Auch nicht die Bücher mit dem Ex Libris seiner Eltern, schöne, sorgfältig gebundene Ausgaben vergessener Autoren, ich habe kein Recht, sie wegzuwerfen, nachdem sie den Tod ihrer Besitzer schon um vierzig Jahre überdauert haben, weil Jerome nichts hatte loslassen können und zwanghaft alles horten mußte, was ihm irgendwann einmal etwas bedeutet hatte. Dieses Ex Libris in Büchern, die seit Jahrzehnten niemand gelesen hat und die
nie irgend jemand mehr lesen wird, macht mich trauriger als Jeromes verwaiste Bücher mit ihren Eselsohren, ihren Unterstreichungen und Randbemerkungen. Zu viel Abwesenheit drängt sich in diesen Räumen, noch nie habe ich es so deutlich gespürt. Wer hier leben will, muß sich in einer Vergangenheit einrichten, gegen die sich nur ein starker Glaube an eine Zukunft behaupten könnte.
Jerome war ein Sammler, der alles hortete, Münzen, Porzellan, Fotos, alte Bücher mit Signaturen. Und als wäre die Vergangenheit, die sich in sichtbaren und unsichtbaren Schichten in unserem Haus abgelagert hatte, noch nicht genug, fuhren wir an Samstagen oft aufs Land nach Süden entlang der Küste, wo in den Feriendörfern kleine Trödelläden an den Landstraßen stehen. Hier fand er eine Spur der gespannten Erwartung, die seine Nachmittage in den Suffolk Downs und den Reiz des Glücksspiels simulierten, denn unter all dem Ramsch aus aufgelassenen Haushalten, den häßlichen Bildern, den verstaubten Lampenschirmen, dem klobigen Geschirr und angelaufenen Silber konnte man unvermittelt auf ein unschätzbar edles und seltenes Kleinod stoßen, von dessen Wert der Trödler keine Ahnung hatte. Wir stöberten ganze Nachmittage lang und kauften selten etwas, aber seine Aufregung und sein atemloser Goldgräberrausch übertrugen sich jedesmal von neuem auf mich.
Die Bücherlosigkeit der Vorstädte brachte ihn auf die Idee, in verstaubten antiquarischen Buchläden, die völlig unerwartet auf verlassenen Landstraßen auftauchten, Autographen zu erwerben. Die Regale reichten in engen, lichtlosen Schneisen bis zur Decke, und es gab selten ein erkennbares System, nach dem man einzelne Autoren hätte finden können, aber das kam Jeromes chaotischer Intuition entgegen, er konnte ganze
Nachmittage dort verbringen. Jetzt suche ich nach der signierten Ausgabe von William Butler Yeats, finde einen Gedichtband von John Greenleaf Whittier mit verblaßter Unterschrift, Joseph Hellers schrägen, fast verschämten Schriftzug ohne Datum in Closing Time, Mother Goose in Goldschnitt und den Prachtband einer Anthologie mit unbekannten Autoren aus dem neunzehnten Jahrhundert, der beim Aufblättern zerfällt. Woher nahm er die Gewißheit, daß er mit diesen Signaturen keinem Betrug aufsaß?
In jüngeren Jahren war er in Europa herumgereist, um die Orte aufzusuchen, aus denen seine Vorfahren stammten, und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte er Osteuropa
Weitere Kostenlose Bücher