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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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Tage.
    Sie legt auf, und ich gehe zurück zu Jeromes Foto, das ich im letzten Winter aufgenommen habe und versuche, seinen Gesichtsausdruck zu ergründen. Er sitzt auf einer Kaimauer am Meer. Ich kenne die Küste zwischen Provincetown und Portland auswendig, so gut, daß ich jede Bucht nachzeichnen könnte, aber ich bin nicht sicher, an welcher Stelle dieses Foto entstanden ist. Es muß das äußerste Ende der Hafenmauer von Rockport gewesen sein, an dem wolkenlosen, warmen vierundzwanzigsten
Dezember kurz vor der Dämmerung. Man spürte die verhaltene Stille des anbrechenden Feiertags, die sonst von Touristen überlaufenen Straßen des Ferienortes auf Cape Ann waren menschenleer, die Geschäfte bereits geschlossen und die Schauräume der Souvenirläden dunkel, nur die Konditorei eines ausgewanderten Österreichers, Helmut’s Strudel, war gerade dabei zu schließen. Wegen dieser Konditorei auf einer Landzunge am Atlantik hatten wir die Gegend früher, als wir Ilana bei unseren Ausflügen noch bei uns hatten, Strudel-Beach genannt. Das Meer war ein regloser blauer Spiegel, und in den Fenstern am alten Hafen blitzten die Strahlen der tiefstehenden Sonne auf. Wir schlenderten eng aneinandergeschmiegt durch die leeren Gassen bis an die Spitze der Halbinsel, wo die Straße endet und ich das Foto machte. Früher waren wir mit Ilana oft auf den großen Felsblöcken weit ins Meer hinausbalanciert, von Felskante zu Felskante gesprungen, bis wir atemlos vor Höhenangst direkt über der Gischt der Brandung standen. Ich weiß nicht, ob Jerome auf dem Foto lacht oder bloß in die untergehende Sonne blinzelt, es könnte sogar sein, daß er mit den Tränen kämpft, er sieht mich direkt an mit diesem fast verzweifelten Ausdruck von Zärtlichkeit, Trauer und Erwartung, ich weiß es nicht, was er in diesem Augenblick gedacht hat, und dabei glaubte ich immer, ich könnte jede Regung von seinem Gesichtsausdruck ablesen. Gesicht und Hände scheinen mir jetzt blaß und ein wenig aufgedunsen, und seine Haare waren seit langem weiß, aber das Alter war so langsam gekommen und er war mir so vertraut, daß mir seine sichtbaren Zeichen nicht aufgefallen waren, und auch die Müdigkeit erkenne ich erst im nachhinein. Die Vorstellung, daß er in diesem Augenblick wußte, daß er bald sterben würde, gibt diesem Nachmittag im Dezember einen doppelten Boden.

    Wir hatten auf der Rückfahrt in einem Restaurant entlang der alten Poststraße zwischen Maine und Connecticut essen wollen, aber außer den chinesischen Restaurants waren alle Gasthäuser geschlossen. In der Dämmerung fuhren wir durch Farmland, vorbei an alten Häusern aus der Kolonialzeit, abweisend, puritanisch in der strengen Pracht ihrer dunklen Schindeln, und ohne Fensterläden, ohne einen einzigen noch so kargen Schmuck, zwischen Schafzäunen und verwilderten Hecken.
    Emily Dickinson Land, sagte ich, und auch ihre Tageszeit, there is a certain slant of light, winter afternoons, und er fuhr fort mit dem Zitat, that oppresses like the heft of cathedral tunes , eine Landschaft, als hinge sie ein Stück über der Erde.
    Flying Saucer Country, eine Gegend für Außerirdische, sagte Jerome nach einer Weile des Schweigens, was bedeutete, daß es ihm ein wenig unheimlich war in dieser verwilderten Einsamkeit mit den seltsam geformten Weiden, die über die Straße ragten.
    Aber auch Downtown Boston war unheimlich leer und still, als habe die ganze Stadt sich in die inneren Räume zurückgezogen. Die kahlen Bäume entlang der Commonwealth Avenue trugen elektrische Lichtgirlanden, elegant und sparsam, im Public Garden setzten wir uns unter den falschen Sternen der juwelenbesetzten schwarzen Zweige auf eine Bank. Ich vergrub meine kalten Hände in seiner Manteltasche. Seine Hände waren immer fest und warm, und wir saßen schweigend, als wäre alles bereits gesagt, aber ich hatte damals ständig das Gefühl, als balancierten wir am Rand eines unsichtbaren Abgrunds. Vielleicht spürten wir es beide, ohne es einander zu gestehen, so daß wir uns der Nähe des anderen versichern mußten, der Wärme, die vom Körper des anderen ausging.

    Es war nicht das erstemal, daß sich, noch bevor etwas passierte, das bisherige Leben wie von selber aufzulösen begann, und ich konnte nichts dagegen tun. Die beiden Kontinente strebten auseinander, in entgegengesetzte Richtungen. Aber ich hatte mich in beiden eingerichtet und mein Gleichgewicht darauf gestützt, daß ich von einem zum anderen fliehen konnte. Ich

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