Wenn du wiederkommst
würde ins Bodenlose stürzen, dachte ich, wenn man mir einen davon wegnähme. Das Ende kündigte sich als etwas Ungreifbares, etwas Atmosphärisches an, es blieb uns nichts übrig, als tatenlos zu erwarten, was schon vor uns lag und bald in Erscheinung treten würde. Wir hörten es wie ein unterirdisches Grollen und hielten uns aneinander fest.
Am Ende gingen wir an jenem vierundzwanzigsten Dezember ins Tin Tin in Downtown Boston essen, Jerome insistierte, es sei ein jüdischer Brauch, am Weihnachtsabend chinesisch zu essen. Das alles ist in allen Einzelheiten gegenwärtig, wenn ich das Foto ansehe. Zwei Tage später bekam er hohes Fieber, eine Grippe, aus der eine Lungenentzündung wurde, acht Wochen lang, bis in den späten Februar, eine Krankheit, von der er sich nicht mehr erholte. Der Tod kam nicht ohne Vorwarnung über ihn, aber wir konnten ihn in der banalen Verkleidung nicht erkennen. Es fehlte mir an Erfahrung, um zu wissen, daß manche Menschen, wenn sie den Tod näher kommen fühlen, nicht klagen, sondern einfach stiller und nachgiebiger werden. Erst jetzt, wo es mir nichts mehr nützt, addiert es sich zu den Qualen der verpaßten Möglichkeiten. Aber ich werde nie erfahren, welche geheimen Prozesse sich in seinem Bewußtsein abspielten, ich weiß nicht, was er erkannt hatte, das ihn reif machte für den Tod.
Ich finde Tag für Tag neue Finten, um in meiner von der Zukunft abgetrennten Zeit zu verharren. Ich sitze reglos vor
seinen Fotos und konzentriere mich darauf, mich zu erinnern, als wäre es eine Prüfungsaufgabe, von deren richtiger Lösung es abhängt, ob ich mich dem Wissen verschließen darf, daß er nirgendwo mehr ist. Zu diesem Zweck stelle ich immer neue Fotos, die ich im Lauf der Jahre aufgenommen habe, auf der Anrichte im Eßzimmer nebeneinander wie auf einen Altar. Wie Emily vor einer Woche sitze ich vor Bergen von Fotoalben, Schachteln voller Fotos und einzelnen, die wie Lesezeichen aus Büchern gefallen sind. Den Papierkorb in Reichweite neben dem Tisch bestimme ich in wachsendem Tempo, welche ich behalte und welche weggeworfen werden. Sechzig Liter faßt ein Müllsack, und er füllt sich rasch mit Fotos, deren Vernichtung mir Genugtuung bereitet. Ich weiß, es ist eine späte Rache an jenem Teil seines Lebens, den er mir vorenthielt, es ist der Triumph der Überlebenden, über die Toten zu verfügen, die Geschichte neu zu schreiben, ihr meine Version aufzuzwingen, das Brauchbare wegzuschleppen und den Rest in Flammen aufgehen lassen, wie es alle Sieger tun. Von manchen Frauen gibt es mehr Fotos, als er Tage mit ihnen verbracht hatte, Fotos in allen Posen und Situationen, Fotos, denen man ansieht, wie glücklich sie miteinander waren, auch wenn er mir beteuert hatte, es sei nichts gewesen als ein Flirt, eine Verliebtheit. Die Fotos sprechen eine andere Sprache, Frauen waren für ihn ein Wunder, das zu verehren er nie müde wurde. Ich habe ihn mir nie vorgestellt im Bett mit einer anderen Frau, nicht beim Sex und auch nicht danach, wenn sie nebeneinanderlagen, wenn sie nebeneinander aufwachten, diese eheliche Intimität zweier Körper, die sich einander zuwenden, zweier Gesichter, die einander vertraut sind. Ich habe es meiner Phantasie verboten, mich mit solchen Bildern zu quälen, bis jetzt.
Auf dem Grund seiner Fotoschachtel liegen Aufnahmen aus Fotostudios von Frauen, die aussehen wie die Filmstars seiner Jugend mit großen schmachtenden Augen und herzförmig geschminkten Lippen, seine eigene retouchierte Greta Garbo, die ich mir auch vor vierzig Jahren nicht in seinen Armen vorstellen kann. Nicht alle in dieser Sammlung waren ihm nah gestanden, ich finde unsere gemeinsame Freundin Judit aus Bukarest, die eine Weile bei uns wohnte, während sie sich als Solopianistin bewarb, junge Kolleginnen, deren er sich als Berater und Mentor annahm, Shirin, die überdrehte Ehefrau eines Freundes, für die er schwärmte, eine Weile streute er die glitzernden Folienschnipsel, die sie ihm zu einem Geburtstag geschenkt hatte, in jeden seiner Briefe. Es gelang ihm, die offensichtlichsten Charakterschwächen zu übersehen, wenn seine Begeisterung sich an einem Detail entfachte, einer gewinnenden Art zu lächeln, einer warmen Stimme, einem flinken Verstand, anmutigen Bewegungen.
Eine kehrt über die Jahre immer wieder, und ihr Gesicht altert, je frischer und glänzender das Fotopapier wird. Suleyma. Sie war vor mir da, älter als er, einen rötlich blonden Heiligenschein um ein Gesicht, über das
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