Wenn ein Reisender in einer Winternacht
beinahe wie eine Frage an, als wolltest du dir von Uzzi-Tuzii Ludmillas Gepflogenheiten bestätigen lassen, über die du kaum etwas weißt, während er sie womöglich bestens kennt. »Sie kennen Ludmilla, nicht wahr, Herr Professor?«
»Ich kenne sie, ja. .. warum fragen Sie, was wollen Sie von mir wissen?« erregt er sich. »Gilt Ihr Interesse der kimmerischen Literatur, oder. « Es klingt, als habe er sagen wollen: ». oder gilt es Ludmilla«, aber er spricht den Satz nicht zu Ende, und wenn du ehrlich bist, mußt du zugeben, daß du dein Interesse für den kimmerischen Roman nicht mehr genau unterscheiden kannst von deinem Interesse für die Leserin des Romans. Und des Professors Reaktionen auf den Namen Ludmilla werfen zudem, im Verein mit den Andeutungen Irnerios, ein schillerndes, mysteriöses Licht auf sie, erzeugen oder wecken in dir eine beklommene Neugier für die Leserin, ähnlich jener, die dich an Zwida Ozkhart fesselt in dem Roman, dessen Fortsetzung du hier suchst, und desgleichen an die geschiedene Frau Marne in dem Roman, den du am Vortag zu lesen begonnen und nun einstweilen beiseite gelegt hast, und mit einemmal geht dir auf, daß du all diesen Schemen gleichzeitig nachjagst, denen der Phantasie wie denen des Lebens.
»Ich wollte. ich wollte Sie fragen, ob es einen kimmerischen Autor gibt, der. «
»Aber nehmen Sie doch Platz«, sagt der Professor plötzlich besänftigt - beziehungsweise eher von einer tieferen und dauerhafteren Sorge erfaßt, die langsam wieder hervorbricht, um die flachen und flüchtigen Sorgen zu vertreiben.
Der Raum ist eng, die Wände sind zugestellt mit Regalen, eins steht sogar mangels Anlehnfläche mitten im Zimmer und teilt den knappen Raum in zwei Hälften, so daß der Schreibtisch des Professors und der Stuhl, auf den du dich setzen sollst, durch eine Art Kulissenwand voneinander getrennt sind und ihr die Hälse recken müßt, um euch zu sehen.
»Man hat uns in diese Kammer unter der Treppe verbannt. Die Universität dehnt sich aus, und wir schrumpfen zusammen
. Wir sind das Aschenputtel der lebenden Sprachen. sofern man das Kimmerische noch als eine lebende Sprache betrachten kann. Doch gerade das macht ja seinen Wert!« ruft er mit einem plötzlichen Aufbegehren, das jedoch gleich wieder abklingt. »Ich meine die Tatsache, daß es eine moderne und zugleich eine tote Sprache ist. .. Eine privilegierte Existenzweise, mag sie auch niemand als solche wahrnehmen. «
Du fragst: »Sie haben nicht viele Studenten?«
»Wer soll denn schon kommen?« klagt er. »Wer entsinnt sich denn heute noch der Kimmerer? Es gibt doch heutzutage so viele unterdrückte Sprachen, die attraktiver sind. Baskisch. Bretonisch. Sinti. Die belegen sie alle. Nicht daß sie die Sprache studieren, das will heutzutage keiner mehr. Nein, sie wollen Probleme, um darüber zu diskutieren, allgemeine Ideen, die sich mit anderen allgemeinen Ideen verbinden lassen. Meine Kollegen passen sich an, gehen mit dem Strom, nennen ihre Kurse >Soziologie des Gälischen< oder Psycholinguistik des Okzitanischen<. .. Beim Kimmerischen geht das nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil die Kimmerer einfach verschwunden sind, wie vom Erdboden verschluckt!« Er schüttelt sich, als wollte er seine ganze Geduld zusammennehmen, um etwas schon hundertmal Wiederholtes zu sagen: »Dies ist ein totes Institut für eine tote Literatur in einer toten Sprache. Wozu soll heute noch jemand das Kimmerische studieren? Ich bin der erste, der dafür Verständnis hat, ich bin der erste, der den Studenten sagt: Bitte, wenn ihr nicht kommen wollt, dann bleibt eben weg! Von mir aus kann das Institut auch geschlossen werden. Aber herzukommen, um dann hier. Nein, das ist zuviel!«
»Um dann hier was?«
»Um dann hier Dinge zu tun. die ich auch noch mitansehen muß! Dinge, ich sage Ihnen. Was glauben Sie, wochenlang läßt sich hier niemand blicken, und wenn dann schließlich jemand kommt, will er bloß. .. Bleibt doch, wo ihr seid, sage ich, was interessiert euch an diesen toten Büchern in einer toten Sprache? Aber sie tun es absichtlich, sie sagen: Gehen wir doch mal zu den botnisch-ugrischen Sprachen, gehen wir zu Uzzi-Tuzii! Und ich muß wieder herhalten, mitansehen, mitmachen. «
»Wobei?« fragst du beklommen und denkst an Ludmilla, die immer herkam, um sich hier zu verstecken, vielleicht mit Irnerio oder auch mit noch anderen.
»Bei allem! Vielleicht ist hier etwas, das sie anzieht, ja, diese Unentschiedenheit zwischen Leben und
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