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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Haltung der Hand war unnatürlich; ich nehme an, die Fenster sitzen hoch in den Zellen und sind tief in das Gemäuer eingelassen; der Häftling muß einen akrobatischen Akt vollführt haben, geradezu wie ein Schlangenmensch, um den Arm zwischen den Gitterstäben hindurchzuzwängen und die Hand ins Freie zu strecken. Es war kein Wink eines Sträflings an mich noch an sonst irgendeinen; jedenfalls nahm ich's nicht als einen solchen, im Gegenteil, ich dachte in diesem Moment überhaupt nicht an die Gefangenen; auch muß ich sagen, daß mir die Hand sehr weiß und zart erschien, ähnlich der meinen; nichts verwies auf die Rauheit, die man gemeinhin bei einem Sträfling erwartet. Nein, für mich war die Hand ein Zeichen, das direkt aus dem Stein kam: Der Stein wollte mir bedeuten, daß wir von gleicher Substanz sind, er und ich, und daß folglich etwas von dem, woraus ich gemacht bin, fortdauern wird und nicht vergehen muß mit dem Ende der Welt: Ein Kommunizieren wird also noch möglich sein, auch in der leeren Wüste, aus der jede Spur des Lebens getilgt ist, jede Spur meines Lebens und alles, was an mich erinnert. Ich gebe nur meine ersten Eindrücke wieder, denn sie allein zählen.
    Heute kam ich bis zum Belvedere, von wo aus man tief drunten ein Stückchen Strand sehen kann, leer und verlassen vor dem grauen Meer. Die in einem Halbkreis angeordneten Strandkörbe mit ihren hohen, zum Schutz gegen den Wind weit vorgebeugten Rückenlehnen schienen mir auf eine Welt zu deuten, aus der das Menschengeschlecht verschwunden ist und alle Dinge nur noch von seinem Nichtmehrvorhandensein sprechen. Ein Schwindelgefühl erfaßte mich, als stürzte ich unaufhörlich von einer Welt in die andere und erreichte jede kurz nach dem gerade erfolgten Ende der Welt.
    Ungefähr eine halbe Stunde später kam ich noch einmal zum Belvedere zurück. Aus einem Strandkorb, der mir den Rücken zukehrte, wehte ein lilafarbenes Band. Ich stieg den steilen Pfad die Klippen hinab bis zu einer Terrasse, von wo aus man einen anderen Blickwinkel hat: Wie erwartet saß in dem Strandkorb, ganz verborgen im Schutz des geflochtenen Rückens, Fräulein Zwida mit ihrem weißen Strohhut, den aufgeschlagenen Zeichenblock auf den Knien; sie zeichnete eine Muschel. Ich war nicht beglückt, sie zu sehen, die widrigen Vorzeichen von heute morgen ließen mir eine Annäherung nicht geraten erscheinen. Seit fast drei Wochen treffe ich sie, stets allein, auf meinen Spaziergängen über die Klippen und Dünen, und nichts wünsche ich mir sehnlicher, als sie ansprechen zu können, ja, mit diesem Vorsatz verlasse ich jeden Tag meine Pension, doch jeden Tag hält mich irgend etwas davon ab.
    Fräulein Zwida wohnt im Hotel Meereslilie; ich war dort, um mich beim Portier nach ihr zu erkundigen. Vielleicht hat sie es erfahren; zu dieser Jahreszeit sind nicht viele Feriengäste in Petkwo, und die jungen könnte man an den Fingern abzählen. Da wir uns so häufig begegnen, erwartet sie vielleicht, daß ich sie eines Tages anspreche.
    Dem stehen jedoch mehrere Gründe entgegen. Erstens sammelt und zeichnet Fräulein Zwida Muscheln. Ich hatte zwar einmal vor Jahren, als Heranwachsender, eine recht schöne Muschelsammlung, habe sie dann aber aus den Augen verloren und inzwischen alles vergessen: Klassifikationen, Morphologie, geographische Verteilung der verschiedenen Arten etc. Ein Gespräch mit Fräulein Zwida würde mich unvermeidlich auf Muscheln bringen, und ich weiß nicht, wie ich mich dann verhalten soll: eine totale Unkenntnis vortäuschen oder mich lieber auf eine ferne und fast vergessene Erfahrung berufen? Das Thema Muscheln zwingt mich, mein Verhältnis zum Leben zu überdenken und mich dem Gedanken zu stellen, daß mein Leben aus lauter nicht zu Ende geführten, halb ausgelöschten Dingen besteht; daher das Unbehagen, das mich schließlich davor zurückschrecken läßt.
    Zweitens verrät die Hingabe, mit welcher sich Fräulein Zwida dem Zeichnen von Muscheln widmet, in ihr ein Streben nach Perfektion als der Form, zu der die Welt gelangen kann und mithin gelangen muß. Ich hingegen bin seit langem davon überzeugt, daß Perfektion nur beiläufig und durch Zufall entsteht, also keinerlei Interesse verdient, da sich die wahre Natur der Dinge nur im Zerfall offenbart. Spräche ich mit Fräulein Zwida, so müßte ich einige lobende Worte über ihre Zeichnungen sagen - die übrigens ganz hervorragend sind, soweit ich sie sehen konnte; ich müßte also zumindest im ersten

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