Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
nicht richtig sein.
    Haben Sie nichts gemerkt? Warten Sie, ich erklär's Ihnen: Kimmerien, 340 000 Einwohner, Hauptstadt Örkko, Haupterwerbszweige Torf und Nebenprodukte, Teerpräparate. Nein, im Roman steht das nicht. «
    Pause. Schweigen auf beiden Seiten. Vielleicht hält Ludmilla die Sprechmuschel zu und berät sich mit ihrer Schwester. Die ist imstande und hat schon ihre eigenen Ansichten über Kimmerien. Paß auf, wer weiß, was jetzt kommt.
    »Hallo? Ludmilla?«
    »Ja, ich höre. «
    Deine Stimme erwärmt sich, wird eindringlich und gewinnend: »Ludmilla, ich muß Sie sehen, wir müssen über die Sache reden, über all diese seltsamen Umstände, Koinzidenzen und Diskrepanzen. Am liebsten würde ich Sie gleich jetzt treffen, wo sind Sie gerade, wo paßt es Ihnen, ich komme sofort.«
    Sie antwortet, ruhig wie immer: »Ich kenne da einen Professor für kimmerische Literatur, an der Universität. Der könnte uns vielleicht weiterhelfen. Warten Sie, ich ruf ihn mal an und frage, wann er Zeit für uns hat.«
    Du stehst vor der Universität. Ludmilla hat euch bei Professor Uzzi-Tuzii angemeldet, ihr wollt ihn in seinem Institut besuchen. Am Telefon hatte er sich sehr erfreut gezeigt, jemandem helfen zu können, der sich für die kimmerische Literatur interessiert.
    Du hättest dich lieber irgendwo vorher mit Ludmilla getroffen, am liebsten hättest du sie von zu Hause abgeholt. Du hast ihr das vorgeschlagen, am Telefon, doch sie hat abgelehnt, nein, du solltest dir keine Umstände machen, um diese Zeit habe sie sowieso in der Gegend zu tun. Du hast insistiert, du seist mit der Örtlichkeit nicht vertraut, du würdest dich sicher in den labyrinthischen Gängen der Uni verlaufen, ob ihr euch nicht in irgendeinem Cafe eine Viertelstunde vorher treffen könntet? Nein, das passe ihr auch nicht, sie werde direkt zu den »Botnisch-ugrischen Sprachen« kommen, jeder wisse dort, wo das sei, du brauchtest nur einfach zu fragen. Da hast du allmählich begriffen, daß Ludmilla bei aller Freundlichkeit lieber das Heft in der Hand behält und alles selber entscheidet: Dir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    Du bist pünktlich gekommen, drängst dich durch die Reihen der jungen Leute, die auf der großen Freitreppe sitzen, irrst durch die langen Gänge, verloren zwischen den kahlen Wänden, die nun Studentenhände ausgeschmückt haben mit Rieseninschriften in Großbuchstaben und minuziösen Graffitis, ähnlich wie einst die Höhlenmenschen den Drang verspürten, die kalten Wände ihrer Felsgrotten zu bemalen, um deren angsteinflößende steinerne Fremdheit zu bannen, sie umzuwandeln und sich vertraut zu machen, sie einzuholen in den privaten Innenraum, sie der Greifbarkeit des Erlebten einzuverleiben. Leser, ich kenne dich nicht genug, um zu wissen, ob du dich im Innern einer Universität mit souveräner Gleichgültigkeit bewegst, oder ob deine empfindsame und empfängliche Seele, kraft alter Traumata oder bewußt getroffener Entscheidungen, eine Welt von Lernenden und Lehrenden als bedrückenden Alptraum erfährt. In jedem Falle kennt hier niemand das Institut, das du suchst, du wirst vom Untergeschoß bis zum vierten Stockwerk hinaufgeschickt, wann immer du Türen öffnest, sind es die falschen. Du ziehst dich ratlos zurück, dir ist, als hättest du dich in dem Buch mit den leeren Seiten verirrt und fändest nicht mehr hinaus.
    Da kommt ein junger Mann auf dich zu, schlacksig, in einem langen Pullover. Kaum hat er dich erblickt, zeigt er mit dem Finger auf dich und sagt: »Du wartest auf Ludmilla!«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Das sehe ich. Mir genügt ein Blick.«
    »Hat Ludmilla Sie hergeschickt?«
    »Nein, aber ich komme überall rum, treffe diesen und jenen, höre was hier und sehe was da, und natürlich formt sich daraus ein Bild.«
    »Dann wissen Sie auch, wohin ich muß?«
    »Ich bring dich zu Uzzi-Tuzii, wenn du willst. Ludmilla ist entweder schon da oder wird sicher bald kommen.«
    Irnerio heißt dieser extrovertierte und wohlinformierte junge Mann. Du kannst ihn ruhig duzen, er duzt dich ja auch. »Studierst du bei Uzzi-Tuzii?«
    »Ich studiere bei niemandem. Aber ich weiß, wo er ist, weil ich Ludmilla immer dort abgeholt habe.«
    »Dann studiert also Ludmilla am Institut?«
    »Nein, Ludmilla hat immer nur Orte gesucht, wo sie sich verstecken kann.«
    »Vor wem?«
    »Och, vor allen.«
    Irnerios Antworten klingen immer ein bißchen vage, aber er könnte gemeint haben, daß Ludmilla vor allem ihrer

Weitere Kostenlose Bücher