Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Moment so tun, als billigte ich ein ästhetisches Ideal, das ich ablehne; oder ich müßte ihr gleich von vornherein meine Ansichten darlegen, auf die Gefahr hin, sie damit zu verletzen.
Das dritte Hindernis ist mein Gesundheitszustand, der sich zwar durch den Kuraufenthalt am Meer, den mir die Ärzte verordnet haben, erheblich gebessert hat, aber meine Möglichkeiten zum Ausgang und zum Kontakt mit Fremden einschränkt. Ich bin immer noch krisenanfällig und leide vor allem an einem ärgerlichen Ekzem, das mich von jedem geselligen Vorhaben abhält.
Gelegentlich wechsle ich ein paar Worte mit Herrn Kauderer, dem Meteorologen, wenn ich ihm bei der Wetterstation begegne. Herr Kauderer kommt dort immer mittags vorbei, um die Daten abzulesen. Er ist ein großer und hagerer Mann mit dunklem Gesicht, ein bißchen wie ein Indianer. Er kommt mit dem Fahrrad gefahren, wobei er starr vor sich hinsieht, als verlange die Wahrung des Gleichgewichts auf dem kleinen Sattel seine ganze Konzentration. Er lehnt sein Rad an den Schuppen, öffnet eine am Rahmen befestigte Tasche und entnimmt ihr ein großes Registerbuch mit breiten, niedrigen Seiten. Er steigt die Stufen zur Plattform empor, liest die Zahlen von den Instrumenten ab und trägt sie in das Registerbuch ein, teils mit einem Bleistift, teils mit einem großen Füllfederhalter, ohne dabei in seiner Konzentration auch nur eine Sekunde lang nachzulassen. Er trägt Knickerbocker unter einem langen Überzieher; seine ganze Kleidung ist grau oder schwarz-weiß kariert, auch seine Schirmmütze. Erst wenn er mit allem fertig ist, bemerkt er mich, der ich ihm zusehe, und begrüßt mich freundlich.
Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß mir Herrn Kauderers Gegenwart viel bedeutet: Zu sehen, daß jemand heutzutage noch so viel Gewissenhaftigkeit und methodische Sorgfalt aufbringt, hat auf mich - trotz meines Wissens um die Vergeblichkeit allen Strebens - eine beruhigende Wirkung, vielleicht weil es meine unstete Lebensweise kompensiert, die ich trotz aller Schlußfolgerungen, zu denen ich inzwischen gelangt bin, noch immer als schuldhaft empfinde. Deshalb bleibe ich stehen, um dem Meteorologen zuzusehen und sogar mit ihm zu plaudern, obwohl mich die Konversation als solche nicht interessiert. Er redet vom Wetter, natürlich, in seinen präzisen Fachausdrücken, und von den Auswirkungen des wechselnden Luftdrucks auf die Gesundheit, aber er redet auch von den wechselhaften Zeiten, in denen wir leben, und zitiert als Beispiele Episoden aus dem Leben der Stadt oder Dinge, die er in der Zeitung gelesen hat. In solchen Momenten zeigt er sich weniger reserviert, als er auf den ersten Blick erscheint, ja er bekundet sogar eine Neigung, sich zu ereifern und wortreich zu schimpfen, besonders wenn er die Denk- und Verhaltensweisen der Mehrheit mißbilligt, denn er hat einen gewissen Hang zur Unzufriedenheit.
Heute hat Herr Kauderer mir erzählt, daß er für ein paar Tage zu verreisen gedenke und daher jemanden suche, der solange für ihn die Daten abliest, doch leider kenne er niemanden, dem er genügend vertrauen könne. Im Laufe der Unterhaltung fragte er mich, ob ich nicht Interesse hätte, die meteorologischen Meßgeräte lesen zu lernen, er würde es mir schon beibringen. Ich sagte weder ja noch nein, zumindest wollte ich keine präzise Antwort geben, doch ich befand mich neben ihm auf der Plattform, während er mir erklärte, wie man die Höchst- und Mindesttemperatur, den Luftdruck, die Niederschlagsmenge und die Windgeschwindigkeit feststellt. Kurzum, er hat mich, ohne daß ich es recht gewahr wurde, für die nächsten Tage mit seiner Vertretung betraut, beginnend ab morgen mittag um zwölf. Obwohl meine Einwilligung ein wenig erzwungen war -er hatte mir gar nicht die Zeit gelassen, gebührend darüber nachzudenken, noch ihm zu erklären, daß ich nicht einfach so mir nichts dir nichts eine Entscheidung treffen kann -, ist mir der Auftrag nicht unangenehm.
Dienstag. Heute morgen habe ich zum erstenmal mit Fräulein Zwida gesprochen. Der Auftrag, die meteorologischen Daten abzulesen, hat mir sicher geholfen, meine Unsicherheiten zu überwinden. Gab es doch nun zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Petkwo einen bestimmten, von vornherein festgelegten Termin, den ich nicht versäumen durfte, so daß ich, wie immer auch unser Gespräch verlaufen würde, um Viertel vor zwölf erklären konnte: »Ach, ich vergaß, ich muß zur Wetterstation, es ist Zeit zum Datenablesen!« Ich konnte
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