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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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mich also verabschieden, sei's mit Bedauern, sei's mit Erleichterung, jedenfalls mit der Gewißheit, daß mir nichts anderes übrig blieb. Ich glaube, ich habe schon gestern, gleich als Herr Kauderer mir den Vorschlag machte, unklar begriffen, daß die Aufgabe mich zum Gespräch mit Fräulein Zwida ermutigen würde, aber jetzt erst ist mir das klar, soweit hier von Klarheit die Rede sein kann.
    Fräulein Zwida zeichnete gerade einen Seeigel. Sie saß auf einem kleinen Klapphocker, draußen am Ende der Mole. Der Seeigel lag umgedreht auf einem Stein, die Unterseite weit offen, die Stacheln eingezogen, vergeblich bemüht, sich wieder in die richtige Lage zu bringen. Die Zeichnung des Mädchens war eine Studie über das schleimige Innere des sich windenden Weichtiers, wie es sich ausdehnte und zusammenzog, angelegt in Helldunkel mit einer dichten, stacheligen Schraffierung ringsum. Meine geplante Gesprächseröffnung - etwas über die Form der Muscheln als trügerisch schöner Schein, als Hülle um die wahre Substanz der Natur - paßte nicht mehr. Der Anblick des umgedrehten Weichtiers sowie der Zeichnung flößte mir unangenehme Gefühle ein, ja Ekel, wie der Anblick offenliegender Eingeweide. Ich begann das Gespräch, indem ich sagte, nichts sei wohl schwerer zu zeichnen als ein Seeigel, denn sowohl die stachlige Hülle von oben als auch die Weichteile auf der Unterseite böten, trotz der radialen Symmetrie ihrer Struktur, kaum Anhaltspunkte für eine lineare Darstellung. Fräulein Zwida sagte, sie interessiere sich für das Motiv, weil es ein Bild sei, das in ihren Träumen wiederkehre, und sie wolle sich davon befreien. Beim Abschied fragte ich sie, ob wir uns morgen an derselben Stelle wiedersehen könnten. Für morgen habe sie andere Pläne, erwiderte sie, doch übermorgen werde sie wieder mit dem Zeichenblock auf Motivsuche gehen, und dann werde es mir nicht schwerfallen, ihr zu begegnen.
    Während ich die Barometer ablas, näherten sich zwei Männer dem Schuppen. Ich hatte sie niemals zuvor gesehen: schwarzgekleidet in lange Mäntel, die Kragen hochgeschlagen, die Hüte tief in die Stirn gedrückt. Sie fragten mich nach Herrn Kauderer, ob ich wisse, wohin er gegangen sei und wann er zurückkommen werde. Ich sagte, ich wisse es nicht, und fragte, wer sie seien und was sie denn von ihm wollten. »Ach, nichts, nur so«, sagten sie und gingen davon.
     
    Mittwoch. Ich bin zum Hotel gegangen, um Fräulein Zwida einen Strauß Veilchen zu bringen. Sie war nicht da, der Pförtner sagte, sie sei heute schon früh ausgegangen. Ich bin lange herumgelaufen in der Hoffnung, ihr irgendwo zu begegnen. Auf dem großen Platz vor der Festung standen in langer Reihe die Angehörigen der Gefangenen; heute ist im Gefängnis Besuchstag. Mitten unter den wartenden Frauen mit ihren Kopftüchern und ihren weinenden Kindern erblickte ich Fräulein Zwida. Zwar verhüllte ein schwarzer Schleier unter dem Hutrand ihr Gesicht, doch ihre Haltung war unverkennbar: Sie stand aufrecht mit erhobenem Kopf, die Schultern gestrafft, ein bißchen hochmütig.
    Am Rande des Platzes standen, wie um die Wartenden vor dem Gefängnistor zu überwachen, die beiden schwarzgekleideten Männer, die mich gestern bei der Wetterstation angesprochen hatten.
    Der Seeigel, der Schleier vor Zwidas Gesicht, die beiden Unbekannten - überall sehe ich neuerdings schwarz, die Farbe drängt sich mir geradezu auf: eine Botschaft! Ich deute sie mir als einen Mahnruf der Nacht. Mir wird bewußt, daß ich seit langem trachte, den Anteil der Dunkelheit in meinem Leben zu verringern. Das ärztliche Ausgangsverbot nach Sonnenuntergang hat mich seit Monaten in die Grenzen der Welt des Tages verwiesen. Doch das genügt nicht: Ich finde im Tageslicht, in dieser diffusen, bleichen, fast schattenlosen Helligkeit, ein Dunkel, das noch tiefer ist als das Dunkel der Nacht.
     
    Mittwoch abend. Die ersten Stunden der Dunkelheit verbringe ich Abend für Abend mit der Niederschrift dieser Zeilen, ohne zu wissen, ob sie je einer lesen wird. Die Mattglaskugel, die von der Decke meines Zimmers in der Pension Kudgiwa hängt, beleuchtet den Fluß meines Schreibens, doch ist meine Schrift vielleicht zu nervös, um von einem künftigen Leser entziffert werden zu können. Vielleicht wird dieses Tagebuch erst viele Jahre nach meinem Tod ans Licht kommen, wenn unsere Sprache wer weiß wie viele Wandlungen durchgemacht hat, so daß etliche der mir noch geläufigen Wörter und Wendungen altmodisch

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