Wenn ein Reisender in einer Winternacht
in den unmöglichsten Verrenkungen zu erreichen vermag.
Dies nämlich war der erste Glaubenssatz jenes Kultes, den Irina begründet hatte: daß wir dem vorgefaßten Vertikalitätsprinzip entsagten, der Parteinahme für das Senkrechte, für die gerade Linie, jenem Rest eines schlecht verhüllten männlichen Stolzes, der uns noch geblieben war, trotz unserer Annahme eines Daseins als Sklaven einer Frau, die keinerlei Eifersuchtsoder wie immer geartete Überlegenheitsgefühle zwischen uns duldete. »Runter!« befahl sie und drückte die Hand auf Valerians Scheitel, tief gruben sich ihre Finger in das strohrote Wollhaar des jungen Politökonomen, keine Sekunde durfte er sein Gesicht aus der Höhe ihres Schoßes erheben. »Runter, noch tiefer!« und sah mich an mit Augen aus Diamanten und wollte, daß auch ich sie ansähe, auch unsere Blicke sollten sich ineinander verschlingen auf endlos gewundenen Linien. Ich fühlte ihren besitzergreifenden Blick, der keinen Moment von mir abließ, und zugleich fühlte ich einen anderen Blick auf mir ruhen, der mich in jeder Bewegung und überallhin verfolgte, den Blick einer unsichtbaren Macht, die nur eines von mir verlangte: den Tod, sei's der, den ich anderen bringen sollte, oder der meine.
Ich warte auf den Moment, da sich Irinas Blick von mir lösen, seine Schlinge um mich etwas lockern würde. Da, jetzt schließt sie die Augen, ich entschlüpfe ins Dunkel, hinter die Kissen, hinter den Diwan, hinter das Räucherbecken, wo Valerians Kleider liegen, wie immer säuberlich zusammengefaltet, ich gleite lautlos dahin im Schatten ihrer gesenkten Wimpern, durchsuche Valerians Taschen und sein Portefeuille, verstecke mich weiter im Dunkel ihrer geschlossenen Lider, im Dunkel des Schreis, der ihrer Kehle entfährt, entdecke das viermal gefaltete Blatt, auf dem mein Name steht, da, geschrieben mit stählerner Feder, eingesetzt in die Formel des Todesurteils für Verräter, gezeichnet und gegengezeichnet unter den ordnungsgemäßen Stempeln.
V
An diesem Punkt wird die Diskussion eröffnet. Szenen, Personen, Stimmungen und Gefühle werden beiseite geschoben, um Platz zu machen für die allgemeinen Begriffe.
»Das polymorph-perverse Verlangen...«
»Die Gesetze der Marktwirtschaft...«
»Die Homologien der signifikanten Strukturen. «
»Das Abweichende und die Norm. «
»Die Kastration. «
Nur du sitzt immer noch atemlos da, du und Ludmilla, während sonst keiner mehr daran denkt, die unterbrochene Lesung fortzusetzen.
Du beugst dich zu Lotaria, streckst eine Hand nach den lose vor ihr liegenden Blättern aus, fragst schüchtern: »Darf ich?« Du willst den Roman haben. Aber das ist kein Buch, das ist nur eine herausgerissene Lage.
»Entschuldigung, ich wollte die übrigen Seiten, die Fortsetzung«, sagst du.
»Die Fortsetzung?... Oh, hier ist genug zum Diskutieren für einen ganzen Monat. Genügt dir das nicht?«
»Ich meinte ja nicht zum Diskutieren, ich meinte zum Lesen. «
»Ach so. Hör zu, es gibt hier mehrere Arbeitsgruppen, die Bibliothek des herulo-altaischen Instituts hatte nur ein Exemplar, da haben wir's uns geteilt. Es ging ein bißchen heftig zu bei der Teilung, das Buch hat dran glauben müssen, aber ich habe, glaub ich, den besten Teil erwischt.«
Ihr sitzt in einem Cafe und besprecht die Lage, du und Ludmilla. »Also«, faßt du zusammen, »»Ohne Furcht vor Schwindel
und Wind ist nicht Über den Steilhang gebeugt, und Über den Steilhang gebeugt ist nicht Vor dem Weichbild von Malbork, und Vor dem Weichbild von Malbork ist alles andere als Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Bleibt uns nur noch, zum Ursprung der ganzen Verwirrung zurückzugehen.«
»Richtig. Der Verlag hat uns all diese Frustrationen beschert, also muß der Verlag uns jetzt weiterhelfen. Gehen wir hin und erkundigen uns.«
»Ob Ahti und Viljandi identisch sind?«
»Erstmal, ob sie uns nicht ein vollständiges Exemplar von Wenn ein Reisender in einer Winternacht geben können, und dazu auch gleich eins von Vor dem Weichbild von Malbork. Ich meine von den Romanen, die wir angefangen haben im Glauben, daß sie so heißen. Wenn sie in Wirklichkeit anders heißen und von anderen Autoren sind, sollen sie's uns sagen und erklären, welches Geheimnis in diesen Seiten steckt, die ständig von einem Band in den nächsten wandern.«
»Ja, und auf diese Weise«, fügst du hinzu, »gelangen wir dann vielleicht auch zu Über den Steilhang gebeugt, ob vollständig oder Fragment...«
»Ich kann
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