Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Sandsackbarrieren, die jetzt überall aufgetürmt werden (die Stadt scheint sich auf einen Straßenkampf vorzubereiten), wie hinter den Bretterzäunen, die Nacht für Nacht von den rivalisierenden Klebekolonnen mit Plakaten bepflastert werden, immer vergeblich, da der Regen sie immer sofort durchweicht und ganz unleserlich macht wegen des schlechten Papiers und der billigen Druckerschwärze.
Jedesmal wenn ich an dem Gebäude vorbeikomme, das dem Kommissariat für Schwerindustrie als Unterkunft dient, sage ich mir: »Jetzt werde ich hinaufgehen und meinen Freund Valerian besuchen.« Seit dem Tag meiner Ankunft nehme ich mir das vor. Valerian ist mein bester Freund in der Stadt. Doch jedesmal schiebe ich's auf wegen irgendeiner dringenden Sache, die ich erledigen muß. Dabei genieße ich, wie es scheint, doch eine recht ungewöhnliche Freiheit für einen Soldaten im Dienst: Welcher Art meine Pflichten sind, ist nicht ganz klar; ich gehe ein und aus in den Büros verschiedener Stäbe; selten sieht man mich in der Kaserne, als gehörte ich keiner bestimmten Einheit an; auch sieht man mich nirgendwo an einem Schreibtisch sitzen.
Im Gegensatz zu Valerian, der seinen Schreibtisch niemals verläßt. Auch an dem Tag, da ich endlich zu ihm hinaufgehe, finde ich ihn dort vor, allerdings, wie mir scheint, nicht mit Regierungsgeschäften befaßt: Er reinigt einen Trommelrevolver. Sein unrasiertes Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen, als er mich eintreten sieht: »Sieh da, kommst du auch, um dich mit uns in der Falle fangen zu lassen!«
»Oder um die anderen darin zu fangen«, antworte ich.
»Die Fallen sind ineinandergestaffelt, eine im Innern der anderen, und alle klappen gemeinsam zu.« Anscheinend will er mich vor etwas warnen.
Das Gebäude, in dem sich die Räume des Kommissariats für Schwerindustrie befinden, war früher die Privatresidenz eines Kriegsgewinnlers, die von der Revolution beschlagnahmt worden ist. Ein Teil der protzigen Luxuseinrichtung ist noch vorhanden, durchsetzt mit dem tristen Büroinventar; Valerians Arbeitsraum strotzt von Boudoir-Chinoiserien: Vasen mit Drachendekor, lackierte Schatullen, ein seidener Wandschirm.
»Und wen willst du fangen in dieser Pagode? Eine orientalische Königin?«
Hinter dem Wandschirm tritt eine Frau hervor: kurzgeschnittenes Haar, grauseidenes Kleid, milchweiße Strümpfe.
»Die Männerträume ändern sich nicht mit der Revolution«, sagt sie, und an dem aggressiven Sarkasmus in ihrer Stimme erkenne ich die Dame von der Eisernen Brücke.
»Siehst du, hier gibt es Ohren, die jedes unserer Worte hören«, sagt Valerian lachend zu mir.
»Nicht unseren Träumen macht die Revolution den Prozeß, Irina Piperin«, antworte ich ihr.
»Und sie rettet uns auch nicht vor unseren Alpträumen«, erwidert sie.
Valerian mischt sich ein: »Ich wußte gar nicht, daß ihr euch kennt.«
»Wir sind uns in einem Traum begegnet«, sage ich. »Als wir gerade von einer Brücke stürzten.«
»Nein«, widerspricht sie, »jeder hat seine eigenen Träume.«
»Und mancher erwacht unversehens«, insistiere ich, »an einem geschützten Ort wie diesem hier, wo er vor Schwindelgefühlen sicher ist.«
»Schwindelgefühle gibt's überall«, sagt sie und nimmt den Revolver, den Valerian wieder zusammengesetzt hat. Sie öffnet ihn, schaut in den Lauf, wie um zu prüfen, ob er auch gut gereinigt ist, läßt die Trommel rotieren, schiebt eine Patrone in eins der Löcher, spannt den Hahn, läßt die Trommel erneut rotieren und hält sich die Waffe direkt vors Auge. »Sieht aus wie ein Schacht ohne Boden. Man hört den Lockruf des Nichts. Man ist versucht, sich hineinzustürzen, hinein in das lockende Dunkel. «
»He, he, mit Waffen spielt man nicht!« fahre ich hoch und strecke die Hand nach ihr aus. Da richtet sie den Revolver auf mich.
»Wieso nicht?« sagt sie. »Die Männer dürfen's, wir Frauen nicht? Die wahre Revolution kommt erst, wenn wir Frauen die Waffen haben.«
»Und die Männer unbewaffnet bleiben? Scheint dir das richtig, Genossin? Die Frauen bewaffnet? Wozu?«
»Um euren Platz einzunehmen. Wir oben, ihr unten. Um euch mal ein bißchen spüren zu lassen, wie man sich fühlt, wenn man Frau ist. Los, rühr dich, hopp, rüber zu deinem Freund!« befiehlt sie Valerian und hält die Waffe unverändert auf mich gerichtet.
»Irina kann sehr hartnäckig sein«, warnt mich Valerian. »Da nützt kein Widerspruch.«
»Und was jetzt?« frage ich, den Blick zu ihm gewandt in der
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