Wenn ein Reisender in einer Winternacht
nicht leugnen«, sagt Ludmilla, »daß ich, als es hieß, die Fortsetzung sei gefunden, mich einen Moment lang zu falschen Hoffnungen hinreißen ließ.«
»... und von da weiter zu Ohne Furcht vor Schwindel und Wind, auf dessen Fortsetzung ich jetzt am meisten gespannt bin. «
»Ja, ich auch, obwohl ich sagen muß, das war nicht gerade mein Idealroman. «
Da hast du's wieder. Immer wenn du glaubst, auf dem richtigen Weg zu sein, stehst du plötzlich vor einem schroffen Ende oder abrupten Schwenk, sei's beim Lesen, sei's bei der Fahndung nach dem verschwundenen Buch, sei's beim Erkunden von Ludmillas Geschmack.
»Der Roman, den ich jetzt am liebsten lesen würde«, erläutert sie dir, »müßte als einzige Antriebskraft allein die Lust am Erzählen, am Auftürmen von Geschichten haben, ohne dir eine Weltanschauung aufdrängen zu wollen, einfach nur in der Absicht, dich an seinem Wachsen teilhaben zu lassen - wie ein Baum, ein Wuchern von Zweigen und Blättern. «
In diesem Punkt bist du sofort mit ihr einverstanden: Auch du hast genug von diesen intellektzerfressenen, analysezerfledderten Seiten, du träumst von der Rückkehr zu einem natürlichen, unschuldigen, ursprünglichen Lesen.
»Wir müssen den verlorenen Faden wiederfinden«, sagst du. »Also auf zum Verlag.«
»Da brauchen wir nicht zu zweit hinzugehen«, antwortet sie. »Geh du allein und berichte mir dann.«
Du bist enttäuscht. Diese Fahndung erregt dich, weil du sie mit Ludmilla zusammen betreibst, weil ihr sie gemeinsam erleben und miteinander besprechen könnt, während ihr sie erlebt. Gerade eben noch schien dir, daß ihr zu einer Verständigung, einem Vertrauensverhältnis gekommen wärt, nicht bloß, weil ihr euch jetzt ebenfalls duzt, sondern mehr noch, weil ihr euch als Komplizen fühlt in einer Unternehmung, die vielleicht niemand anders verstehen kann.
»Und wieso willst du nicht mitkommen?«
»Aus Prinzip.«
»Wie das?«
»Es gibt eine Demarkationslinie, eine Grenze zwischen denen, die Bücher machen, und denen, die Bücher lesen. Ich möchte bei denen bleiben, die lesen, und deshalb passe ich auf, daß ich die Grenze nicht überschreite. Sonst wär's bald vorbei mit dem unvoreingenommenen Lesevergnügen, oder jedenfalls würde es sich in etwas anderes verwandeln, und das wäre nicht das, was ich will. Ich muß sehr genau aufpassen, denn die Grenzlinie ist nur ungefähr zu erkennen und hat die Tendenz, immer mehr zu verlöschen: Die Welt derjenigen, die beruflich mit Büchern zu tun haben, bevölkert sich immer dichter und neigt dazu, sich mit der Welt der Leser gleichzusetzen. Gewiß werden auch die Leser immer zahlreicher, aber mir scheint, daß die Zahl der Leute, die Bücher benutzen, um daraus andere Bücher zu machen, schneller wächst als die Zahl der Leute, die Bücher einfach nur gerne lesen. Und ich weiß, daß ich, wenn ich diese Demarkationslinie überschreiten würde, auch nur gelegentlich oder aus Versehen, in Gefahr käme, mich von dieser vorwärtsdrängenden Flut mitreißen zu lassen. Deshalb weigere ich mich, meinen Fuß in ein Verlagshaus zu setzen, auch nur für ein paar Minuten.« »Und was ist mit mir?«
»Das mußt du schon selber wissen. Probier's doch mal aus. Jeder reagiert anders.«
Nichts vermag diese Frau umzustimmen. Du mußt deine Expedition allein unternehmen, und anschließend trefft ihr euch dann wieder hier, in diesem Cafe, um sechs.
»Sie kommen wegen des Manuskripts? Es wird gerade gelesen, nein, Pardon, es ist schon gelesen worden, mit Interesse, ja, sicher, ich erinnere mich genau, beachtliches Sprachgefühl, starke Aussage, haben Sie unseren Brief nicht bekommen? Müssen wir Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen, ja, steht alles im Brief, ist schon eine Weile her, daß wir ihn abgeschickt haben, immer diese Verzögerungen bei der Post, Sie kriegen ihn sicher noch, unser übervolles Verlagsprogramm, die ungünstige Konjunkturlage, sehen Sie, eben, Sie haben ihn doch schon bekommen, was steht sonst noch drin? Danken wir Ihnen, daß Sie es uns freundlicherweise zu lesen gaben, und schicken es Ihnen baldmöglichst zurück, ach so, Sie kommen, um Ihr Manuskript zu holen? Nein, wir haben es noch nicht finden können, haben Sie bitte noch etwas Geduld, es wird schon wieder zum Vorschein kommen, keine Sorge, hier geht nichts verloren, erst kürzlich haben wir Manuskripte gefunden, die wir seit zehn Jahren suchten, o nein, nicht erst in zehn Jahren, Ihr Manuskript finden wir auch schon eher, bestimmt,
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