Wenn ein Reisender in einer Winternacht
begleichen, materiell oder moralisch, zum Beispiel damals in Macao die Eltern der Mädchen vom »Jadegarten« (ich erwähne die hier, weil es nichts Schlimmeres gibt als chinesische Anverwandte, wenn du sie loswerden willst) - dabei hatte ich damals, als ich die Mädchen engagierte, ganz klare Abmachungen getroffen, mit ihnen und ihren Eltern, und hatte bar bezahlt, bloß um sie nicht ständig wiedersehen zu müssen, diese ausgemergelten Väter und Mütter in ihren weißen Socken, mit ihren fischig riechenden Bambuskörben und immer so einem verlorenen Ausdruck, als ob sie vom Lande kämen, dabei wohnten sie alle im Hafenviertel - na ja, also wie oft schon, wenn die Vergangenheit mich bedrückte, hatte ich diese Hoffnung: daß es möglich sei, einen klaren Schlußstrich zu ziehen, den Beruf zu wechseln, die Frau, die Stadt, den Kontinent - einen Kontinent nach dem anderen, bis ich ganz rum war -, die Gewohnheiten, Freunde, Geschäfte, Kunden. Es war ein Irrtum, und als ich's merkte, war's zu spät.
Denn auf diese Art habe ich unaufhörlich nur immer Vergangenheiten über Vergangenheiten hinter mir aufgehäuft und sie vervielfacht, diese Vergangenheiten, und wenn mir ein Leben schon zu dicht und verzweigt und verworren erschien, um es ständig mit mir herumzuschleppen, wie dann erst viele Leben, so viele, jedes mit seiner Vergangenheit und mit den Vergangenheiten der anderen Leben, die sich immer weiter verknoten! Vergeblich sagte ich mir bei jedem Mal: Wie erleichternd, ich stell den Kilometerzähler zurück auf Null, ich wisch mit dem Schwamm alles weg von der Tafel! Von wegen! Am Tag nach der Ankunft in einem neuen Land war aus der Null schon wieder eine Zahl mit so vielen Stellen geworden, daß sie nicht mehr auf den Zähler paßte, daß sie die Tafel schon wieder von einem Ende zum anderen füllte, Personen, Orte, Sympathien und Antipathien, falsche Bewegungen. Wie in der Nacht, als wir nach einem guten Plätzchen suchten, um Jojo zu karbonisieren, als die Scheinwerfer zwischen die Bäume und Felsbrocken leuchteten und Bernadette plötzlich auf das Armaturenbrett zeigt: »Sag bloß, wir haben gleich kein Benzin mehr!« Tatsächlich, über all meinen Sorgen hatte ich ganz vergessen zu tanken, und jetzt drohten wir stehenzubleiben da draußen, weit und breit keine Ortschaft, und die Tankstellen hatten noch zu. Ein Glück, daß wir Jojo noch nicht verbrannt hatten: Man stelle sich vor, wir wären da festgesessen, unweit von seinem Scheiterhaufen! Wir hätten ja nicht mal zu Fuß abhauen können, weil, ein so leicht erkennbarer Schlitten wie meiner, der hätt uns doch gleich verraten! Na ja, so blieb uns nichts anderes übrig, als das Benzin aus dem Reservekanister, mit dem wir Jojos nachtblauen Anzug und sein monogrammbesticktes Seidenhemd hatten durchtränken wollen, in den Tank zu gießen und schleunigst wieder zurückzufahren in die Stadt, um uns was anderes einfallen zu lassen, wie wir ihn loswerden könnten.
Vergeblich sagte ich mir, daß ich aus allen Schlamasseln, in die ich geraten war, noch immer irgendwie rausgefunden hatte, aus allen Glücks- oder Unglücksfällen. Die Vergangenheit ist wie ein immer länger werdender Bandwurm, den ich aufgespult in mir trage und der kein einziges Glied verliert, so sehr ich auch immer bemüht bin, meinen Darm zu entleeren in sämtliche Spül- oder Steh- oder Plumpsklos, in die Kübel der Gefängniszellen, die Nachtgeschirre der Krankenhäuser, die Lagerlatrinen oder einfach hinter die Büsche, nachdem ich gut vorher nachgeschaut habe, daß nicht auf einmal eine Schlange hervorschießt wie damals in Venezuela. Deine Vergangenheit kannst du so wenig ändern wie deinen Namen: So viele Pässe ich auch schon hatte, mit Namen, an die ich mich selber kaum noch erinnere, immer nannten mich alle nur Ruedi den Schweizer; egal wo ich hinkam und wie ich mich vorstellte, überall gab es mindestens einen, der wußte, wer ich war und was ich getan hatte - obwohl mein Äußeres sich mit den Jahren sehr verändert hat, besonders seit mein Schädel kahl und gelb geworden ist wie eine Pampelmuse, damals während der Typhusepidemie auf der Stjärna, als wir uns wegen der Ladung, die wir an Bord hatten, weder der Küste nähern noch über Funk Hilfe holen konnten.
Na ja, letzten Endes führen all diese Geschichten zu der Erkenntnis: Das Leben, das einer geführt hat, ist eben doch nur ein Leben, gleichförmig und kompakt wie eine verfilzte Decke, bei der sich die einzelnen Webfäden nicht
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