Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Strängen, findet wieder zusammen, stutzt irritiert, geht weiter, findet den Faden wieder, verliert sich. Gewiß läßt sich eine Richtung erkennen, ein Streben zu einem Ziel als Streben zu einer Klimax, und im Hinblick auf dieses Ziel gibt es rhythmische Phasen, Skandierungen metrischer Art und Motivwiederholungen. Aber ist das Ziel wirklich die Klimax? Oder steht der Verfolgung dieses Ziels ein anderes Streben entgegen, ein Schwimmen gegen den Strom der Momente, um die verflossene Zeit zurückzugewinnen?
Wollte jemand das Ganze graphisch darstellen, so brauchte er für jede einzelne Episode mit ihrem Höhepunkt ein drei- oder gar vierdimensionales Modell, nein, kein Modell, keine Erfahrung ist wiederholbar. Am meisten gleichen Liebesakt und Lektüre einander darin, daß sich in ihnen Zeiten und Räume auftun, die anders sind als meßbare Zeiten und Räume.
Bereits in der konfusen Improvisation dieser ersten Begegnung liest man die mögliche Zukunft eines Zusammenlebens. Heute seid ihr einander Gegenstand der Lektüre, jeder liest im anderen seine ungeschriebene Geschichte. Morgen, Leser und Leserin, wenn ihr dann noch zusammenseid, wenn ihr gemeinsam zu Bett geht als wohletabliertes Paar, wird jeder von euch die Lampe an seinem Kopfende anknipsen und sich stumm in sein Buch vertiefen; zwei parallele Lektüren werden das Nahen des Schlafes begleiten; nach einer Weile löscht ihr das Licht, erst du und dann du; als Rückkehrer aus getrennten Welten findet ihr flüchtig im Dunkel zusammen, wo alle Distanzen verlöschen, bevor auseinanderstrebende Träume euch wieder davonziehen, dich in die eine und dich in die andere Richtung. Aber spottet nicht über diesen idyllischen Ausblick auf eheliche Harmonie: Welches schönere Bild eines glücklichen Paares könntet ihr ihm entgegensetzen?
Du erzählst Ludmilla von dem Roman, den du gelesen hast, als du vorhin im Cafe auf sie wartetest. »Es ist ein Buch von der Art, wie du sie magst: Es vermittelt einem gleich von der ersten Seite an so ein Gefühl des Unbehagens. «
Fragend blitzt es in ihren Augen auf. Dir kommt ein Zweifel: Vielleicht hast du diesen Satz mit dem Unbehagen gar nicht von ihr gehört, sondern irgendwo gelesen. Oder vielleicht glaubt Ludmilla inzwischen nicht mehr an die Angst als Bedingung der Wahrheit. Vielleicht hat ihr jemand bewiesen, daß auch die Angst nur ein Mechanismus ist und daß sich nichts leichter verfälschen läßt als das Unbewußte.
»Ich mag die Art Bücher«, sagt sie, »in denen alle Geheimnisse und Ängste durch einen präzisen Verstand gehen, durch einen Kopf, der so kühl und klar ist wie der eines Schachspielers.«
»Na gut, jedenfalls ist dies die Geschichte von einem Typ, der nervös wird, wenn er ein Telefon klingeln hört. Eines Morgens macht er grad Jogging. «
»Nicht weitererzählen! Laß es mich lesen.«
»Ich bin selber nicht sehr viel weiter gekommen. Warte, ich hol's dir.«
Du springst aus dem Bett, um das Buch aus dem Nebenzimmer zu holen - von dort, wo vorhin die überraschende Wende in deinen Beziehungen zu Ludmilla den normalen Verlauf der Geschehnisse unterbrochen hatte.
Du findest es nicht.
(Du wirst es später in einer Kunstausstellung wiederfinden: als neuestes Werk des Bildhauers Irnerio. Die Seite, auf der du als Lesezeichen eine Ecke umgeknickt hattest, liegt aufgeschlagen auf einer der Basen eines kompakten, fest verklebten, mit transparentem Kunstharz lackierten Parallelepipeds. Eine dunkle Brandspur wie von einer aus dem Innern des Buches hervorzüngelnden Flamme kräuselt die Oberfläche der Seite und entblößt an den Bruchstellen eine Schichtenfolge wie bei einer knorrigen Rinde.)
»Ich kann's nicht finden, aber das macht nichts«, rufst du zu ihr hinüber. »Soviel ich vorhin gesehen habe, hast du ja noch ein zweites Exemplar. Ich dachte sogar, du hättest es schon gelesen. «
Ohne daß sie es merkt, gehst du rasch in die Kammer und holst das Flannery-Buch mit der roten Bauchbinde. »Hier ist es.«
Ludmilla schlägt das Buch auf. Du erblickst eine handschriftliche Widmung: Für Ludmilla ... von Silas Flannery. »Ja, das ist mein Exemplar. «
»Ach, du kennst Flannery?« rufst du aus, als ob du von nichts wüßtest.
»Ja. Er hat mir das Buch geschenkt. Aber ich war sicher, daß es mir jemand gestohlen hatte, bevor ich's lesen konnte. ..« »Wer jemand? Irnerio?« »Hmm. «
Es ist Zeit, daß du deine Karten aufdeckst.
»Es war nicht Irnerio, und das weißt du genau!
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