Wenn ein Reisender in einer Winternacht
kommt wohl nicht mehr zurück. Aber inzwischen sind alle seine Geschichten so mit Falschheit durchtränkt, daß alles falsch ist, was man über ihn sagt. Das hat er immerhin erreicht. Die Bücher, die er hergebracht hat, sehen von außen genauso aus wie die anderen, aber ich erkenne sie auf den ersten Blick, von weitem. Eigentlich sollte hier nichts mehr von seinen Papieren herumfliegen, außerhalb dieser Kammer. Aber dauernd kommen noch irgendwo Spuren von ihm zutage. Manchmal glaube ich fast, daß er sie selber legt, daß er herkommt, wenn keiner da ist, und heimlich weiter seine üblichen Tauschgeschäfte betreibt. «
»Was für Tauschgeschäfte?«
»Ich weiß nicht. Ludmilla sagt, alles wird falsch, was er anfaßt, wenn's nicht schon vorher falsch war. Ich weiß nur eins: Wenn ich versuchen würde, meine Werke mit Büchern zu machen, die ihm gehört haben, dann kämen Fälschungen dabei raus. Auch wenn sie genauso aussehen würden wie das, was ich sonst immer mache. «
»Und warum behält Ludmilla seine Sachen in dieser Kammer? Wartet sie, daß er zurückkommt?«
»Ludmilla war unglücklich, als er hier wohnte. Sie las nicht mehr. Dann lief sie weg. Sie ist als erste gegangen, dann ging auch er. «
Der Schatten entfernt sich. Du atmest auf. Die Vergangenheit ist vergangen. »Und wenn er wiederkäme?«
»Dann würde sie wieder weggehen.«
»Wohin?«
»Hmm. in die Schweiz. Was weiß ich. «
»In die Schweiz? Gibt es da noch einen anderen?« Unwillkürlich denkst du an den Schriftsteller mit dem Fernglas.
»Na ja, einen anderen schon. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Der Alte mit den Krimis. «
»Silas Flannery?«
»Ludmilla sagte, wenn Marana sie überzeugt, daß der Unterschied zwischen wahr und falsch nur ein Vorurteil in unseren Köpfen ist, dann hat sie das Bedürfnis, jemanden zu besuchen, der Bücher macht, wie ein Kürbisstrauch Kürbisse macht, so hat sie gesagt. «
In diesem Moment geht die Tür auf. Ludmilla kommt herein, wirft Mantel und Päckchen auf einen Sessel. »Oh, wie schön! So viele Freunde! Entschuldigt meine Verspätung!«
Du sitzt bei ihr und trinkst Tee. Auch Irnerio müßte dasein, aber sein Sessel ist leer. »Er war hier. Wo ist er hin?«
»Oh, er wird wohl gegangen sein. Er kommt und geht, ohne was zu sagen.«
»Geht man bei dir so einfach aus und ein?«
»Warum nicht? Wie bist du denn hereingekommen?«
»Ich und alle die anderen!«
»Was soll das? Eine Eifersuchtsszene?«
»Welches Recht hätte ich schon dazu?«
»Meinst du etwa, von einem bestimmten Punkt an hättest du dazu ein Recht? Wenn das so ist, wollen wir lieber gar nicht erst anfangen.«
»Was anfangen?«
Du stellst die Teetasse auf den Tisch. Du wechselst vom Sessel zum Sofa hinüber, zu ihr.
(Anfangen. Das hast du gesagt, Leserin. Aber wie bestimmt man genau, wann eine Geschichte anfängt? Alles hat immer schon vorher begonnen, die erste Zeile der ersten Seite jedes Romans verweist auf etwas, das bereits außerhalb des Buches geschehen ist. Oder die wahre Geschichte beginnt erst zehn oder hundert Seiten später, und alles vorher war nur Prolog. Die Lebensläufe sämtlicher Exemplare der menschlichen Gattung bilden ein fortlaufendes Geflecht, und bei jedem Versuch, ein Stück Leben herauszulösen, das unabhängig vom Rest einen Sinn hat - zum Beispiel eine Begegnung zweier Personen, die für beide entscheidend wird -, muß man in Rechnung stellen, daß beide jeweils ein ganzes Gewirr von Geschehnissen, Sphären, anderen Personen mitbringen und daß aus ihrer Begegnung neue Geschichten hervorgehen werden, die sich trennen werden von ihrer gemeinsam erlebten Geschichte.)
Ihr seid miteinander im Bett, Leser und Leserin. Folglich ist nun der Moment gekommen, euch in der zweiten Person Plural anzureden, eine sehr folgenreiche Operation, da sie darauf hinausläuft, euch als einheitliches Subjekt zu betrachten. Euch meine ich, das undefinierbare Knäuel da unter dem zerwühlten Laken. Vielleicht geht hinterher wieder jeder von euch seiner eigenen Wege, und die Erzählung muß sich erneut damit abplagen, alternierend den Schalthebel umzulegen vom weiblichen Du zum männlichen Du. Aber nun, da eure Körper bestrebt sind, Haut an Haut die sinnenfreudigste Nähe zu suchen, Schwingungen auszusenden und Wellenbewegungen zu empfangen, alle Voll- und Leerräume zu durchdringen, nun, da auch eure geistige Aktivität übereinstimmend nach Übereinstimmung trachtet, nun kann man euch eine
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