Wenn ein Reisender in einer Winternacht
wohlgesetzte Rede halten, die euch als einheitliche Person mit zwei Köpfen begreift. Als erstes ist der Handlungsbereich oder die Seinsweise eurer Zweisamkeit zu bestimmen. Wohin führt diese eure Verschmelzung? Welches zentrale Thema kehrt wieder in euren Variationen und Modulationen? Ist es eine Hochspannung, die sich voll darauf konzentriert, nichts vom eigenen Potential zu verlieren, einen Zustand der Reaktivität zu verlängern, das akkumulierte Verlangen des anderen zu nutzen, um die eigene Aufladung zu vermehren? Oder ist es die allerfügsamste Hingabe, die Erkundung der Unermeßlichkeit eurer lustempfänglichen und lustspendenden Zonen, die Auflösung eures innersten Wesens in einen See mit unendlich taktiler Oberfläche? In beiden Situationen, soviel ist klar, existiert ihr jeweils nur in Funktion des anderen, doch um sie möglich zu machen, müssen eure beiderseitigen Ich, anstatt sich auszulöschen, restlos die ganze Weite des geistigen Raumes füllen, sich selbst mit maximalem Gewinn investieren beziehungsweise sich bis zum letzten Heller verausgaben. Kurzum, was ihr da treibt, ist wunderschön, doch grammatikalisch ändert sich nichts. Im Augenblick, da ihr am allermeisten als ein vereintes Ihr erscheint, seid ihr zwei mehr als zuvor getrennte und wohlabgegrenzte Du.
(Dies schon jetzt, wo ihr noch ausschließlich miteinander beschäftigt seid. Wie also erst in naher Zukunft, wenn euer Geist von getrennten Phantomen heimgesucht wird, während sich eure gewohnheitsgeprüften Körper begegnen?)
Leserin, nun wirst du gelesen. Dein Körper wird einer systematischen Lektüre unterzogen, vermittelt durch die Informationskanäle der Tast-, Gesichts- und Geruchssinne, nicht ohne Mitwirkung der Geschmackspapillen. Auch das Gehör nimmt teil, aufmerksam deinen Seufzern und Juchzern folgend. Aber nicht nur dein Körper ist Leseobjekt: Der Körper zählt nur als Teil eines Ganzen aus komplizierten Elementen, die nicht alle sichtbar und nicht alle zugegen sind, aber in sichtbaren und spontanen Begebenheiten zutage treten: im Mattwerden deiner Augen, in deinem Lachen, in deinen Worten, in der Art, wie du dein Haar zusammenbündelst und ausbreitest, wie du Initiative ergreifst und dich zurückziehst, in allen Zeichen auf der Grenzlinie zwischen dir und den Gepflogenheiten und den Gebräuchen und dem Gedächtnis und der Vorgeschichte und der Mode, in allen Kodes und Zeichensystemen, in all den armseligen Alphabeten, durch welche ein menschliches Wesen in gewissen Momenten ein anderes menschliches Wesen zu lesen glaubt.
Aber auch du, Leser, bist unterdessen ein Leseobjekt für die Leserin: Bald überfliegt sie deinen Körper wie ein Inhaltsverzeichnis, bald schaut sie irgendwo nach wie erfaßt von einer plötzlichen und präzisen Wißbegier, bald hält sie forschend inne und wartet, daß ihr eine stumme Antwort gegeben werde, als interessiere sie jede Teilbesichtigung nur im Hinblick auf eine weiträumigere Erkundung. Bald verweilt sie auf unbedeutenden Einzelheiten, womöglich auf kleinen Stilfehlern wie zum Beispiel deinem vorspringenden Adamsapfel oder der Art, wie du deinen Kopf in ihre Halsbeuge schmiegst, und bedient sich ihrer, um einen gewissen Abstand zu gewinnen, sei's für einen kritischen Vorbehalt oder für eine scherzhafte Vertraulichkeit. Bald wird eine plötzlich entdeckte Einzelheit unmäßig aufgewertet, etwa die Form deines Kinns oder deine spezielle Art, ihr in die Schulter zu beißen, und durch diesen Anlauf gerät sie in Fahrt, und dann liest sie (lest ihr gemeinsam) Seite um Seite von oben bis unten, ohne ein Komma zu überspringen. Doch in deine Befriedigung über die Art, wie sie dich liest, über ihre wortwörtlichen Zitate deiner physischen Gegenständlichkeit, schleicht sich ein Zweifel ein: daß sie dich womöglich nicht ganz und ungeteilt liest, wie du bist, sondern dich nur benutzt, ja nur aus dem Kontext gelöste Teile von dir benutzt, um sich im Halbdunkel ihres getrübten Bewußtseins einen Phantompartner aufzubauen, den nur sie kennt, und daß sie jetzt diesen apokryphen Besucher ihrer Träume entziffert, nicht dich.
Im Unterschied zur Lektüre beschriebener Seiten erfolgt bei Liebenden die Lektüre der Körper (das heißt jenes Konzentrates aus Geist und Körper, dessen Liebende sich bedienen, um miteinander ins Bett zu gehen) nicht linear. Sie beginnt an einem beliebigen Punkt, springt vor und zurück, wiederholt sich, verweilt, verzweigt sich in simultanen und divergierenden
Weitere Kostenlose Bücher