Wenn ein Reisender in einer Winternacht
verkrampft. »Man könnte meinen, du kennst Ludmillas Bibliothek in- und auswendig. «
»Och, ist doch mehr oder weniger immer dasselbe. Aber ich find's schön, die Bücher so alle versammelt zu sehen. Ich liebe Bücher. «
»Wie soll ich das verstehen?«
»Na ja, es gefällt mir, ich mag es, wenn überall Bücher sind. Deswegen ist es hier bei Ludmilla so gemütlich. Findest du nicht?«
Das Gedränge der beschriebenen Seiten umschließt den Raum wie das Dickicht der Blätter in einem Urwald, nein, wie Gesteinsschichten, Schieferplatten, Gneis- und Quarzitstreifen in einer Felswand: So versuchst du, mit Irnerios Augen den Hintergrund zu sehen, vor dem das lebendige Wesen Ludmilla sich abheben muß. Wenn es dir gelingt, Irnerios Vertrauen zu gewinnen, wird er dir das Geheimnis enthüllen, das dich quält: das Verhältnis zwischen Nichtleser und Leserin. Rasch, frag ihn etwas Entsprechendes, irgend etwas. »Aber du«, fällt dir als einzige Frage ein, »was machst du, wenn sie liest?«
»Oh, mir macht es nichts aus, sie lesen zu sehen«, sagt Irnerio. »Und irgend jemand muß ja die Bücher lesen, oder? Wenigstens brauch ich dann nicht zu fürchten, daß ich sie lesen muß.«
Lach nicht, Leser, du hast wenig Anlaß zur Freude. Das Geheimnis, das sich dir da enthüllt, das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden, erweist sich als eine Komplementarität zweier Lebensrhythmen. Für Irnerio zählt nur das Leben im Augenblick; Kunst zählt für ihn nur als Verausgabung von lebendiger Energie, nicht als bleibendes Werk, nicht als jene Akkumulation von Leben, die Ludmilla in ihren Büchern sucht. Aber irgendwie anerkennt auch er jene akkumulierte Energie, ohne lesen zu müssen, und fühlt sich genötigt, sie wieder in Zirkulation zu bringen, indem er Ludmillas Bücher als Grundmaterial für Werke benutzt, in die er wenigstens einen Moment lang seine eigene Energie investieren kann.
»Das hier kann ich gebrauchen«, sagt er und macht Anstalten, sich ein Buch in die Jacke zu schieben.
»Nein, das laß liegen! Das lese ich gerade. Außerdem gehört es mir nicht, ich muß es Cavedagna zurückgeben. Such dir ein anderes. Wie wär's mit dem hier, sieh mal, das sieht ganz ähnlich aus. «
Du hast dir ein Buch gegriffen, auf dem eine rote Bauchbinde stolz verkündet: der neueste Bestseller von silas flanne-ry, womit die Ähnlichkeit schon erklärt ist, denn Flannerys Serienromane erscheinen alle in ein und derselben graphischen Aufmachung. Aber es ist nicht nur die graphische Aufmachung, der Titel auf dem Schutzumschlag heißt In einem Netz von Linien, die sich ... Wahrhaftig, zwei Exemplare desselben Buches! Das hättest du nicht gedacht! »Das ist ja toll! Ich hätte nie gedacht, daß Ludmilla es schon besitzt. «
Irnerios Hände zucken zurück. »Das gehört nicht Ludmilla. Mit dem Zeug will ich nichts zu tun haben. Ich dachte, davon fährt hier nichts mehr herum.«
»Wieso? Wovon? Was meinst du damit?«
Irnerio nimmt das Buch mit zwei Fingern, geht zu einer kleinen Tür, macht sie auf und wirft es über die Schwelle. Du bist ihm gefolgt, steckst den Kopf in eine dunkle Kammer, erkennst einen Tisch mit einer Schreibmaschine, ein Tonbandgerät, ein paar Wörterbücher und einen Stoß beschriebener Blätter. Du nimmst das oberste Blatt, hältst es ans Licht und liest: Übersetzung von Ermes Marana.
Du stehst da wie vom Schlag getroffen. Vorhin, als du Maranas Briefe durchgingst, meintest du dauernd, auf Ludmilla zu stoßen. Weil du unentwegt an sie denken mußt, dachtest du dir und nahmst es als Beweis für deine Verliebtheit. Jetzt, wo du in Ludmillas Wohnung herumgehst, stößt du auf die Spuren Maranas. Wirst du von einer Obsession verfolgt? Nein, es war von Anfang an das ahnungsvolle Gefühl, daß zwischen den beiden eine Beziehung besteht. Die Eifersucht, bisher nur eine Art Spiel mit dir selbst, packt dich jetzt unwiderstehlich. Und nicht nur die Eifersucht: auch das Mißtrauen, der Verdacht, das Gefühl, dich auf nichts und niemanden mehr verlassen zu können. .. Die Suche nach dem abgebrochenen Buch, die dich so in Erregung versetzte, weil du sie mit der Leserin gemeinsam in Angriff nahmst, erweist sich auf einmal als identisch mit der Suche nach ihr, nach Ludmilla, die sich entzieht in einem Wust von Geheimnissen, Täuschungen, Masken. ..
»Ja aber. .. Wie kommt denn Marana hierher?« fragst du betroffen. »Wohnt der hier?«
Irnerio schüttelt den Kopf. »Wohnte hier mal. Ist schon 'ne Weile her. Er
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