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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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Eltern haben Kindern jahrelange Erfahrung voraus. Wenn sie als Partner beim Problemlösen auftreten und sich den Erfolg anrechnen, können sie dem Kind sehr leicht das Gefühl des Triumphs rauben.
    Wie Jeannie Norris sagt, sind junge Menschen heut zutage »reich an Informationen, aber arm an Erfah rungen«. Das gilt für junge Erwachsene wie Erin, die eine Fülle von Informationen zur ständigen Verfügung
haben, aber keine lebenspraktische Erfahrung besitzen, die ihr Stehvermögen testet. Frau Norris stellt einen Vergleich zwischen der heutigen Jugend und der Babyboom-Generation an: »Wir hatten viele Erfahrungen und wenig Informationen. Wir sind in die Schule gegangen, um herauszufinden, was die Erwachsenen wussten, aber inzwischen ist das nicht mehr so. Jeder hat durch das Internet Zugang zu allen möglichen Informationen, und die heutigen Jugendlichen sind in einer Zeit aufgewachsen, in der die Lebenserfahrung auf einem Tiefstand ist. Sie haben weniger Zeit im echten als im virtuellen Leben verbracht. Sie glauben, sie wüssten über Dinge Bescheid, weil sie in den Medien etwas darüber gesehen oder gehört haben, aber ihnen fehlt es an wirklicher Erfahrung.«
    Adrienne und Erin stecken in der Selbstwertfalle. Trotz ihrer guten Bildung fürchten sie, zu versagen, Schwierigkeiten nicht meistern zu können und den Stürmen des Schicksals nicht gewachsen zu sein. Zu ihren Erfahrungen im Magisterstudium bemerkt Erin: »Es war hart. Ich dachte, ich würde viel Beratung und Hilfestellung bekommen, um zu lernen, wie man forscht und Professor wird, aber das war nicht die Art und Weise, wie meine Mentorin es sah. Ich habe versucht, andere Mentoren zu finden. Ich dachte, ich könnte um Hilfe bitten und sie problemlos bekommen, aber das ist nicht der Fall, und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.« Konfrontiert mit ernsthaften Zukunftsfragen, empfindet Erin sehr viel inneren Druck, die »richtige Entscheidung« zu treffen. Sie hatte nicht die Segnungen der Art von Erziehung, die Frau Norris empfiehlt, und muss unvorbereitet als Erwachsene Probleme lösen, im Wissen, dass es kein Sicherheitsnetz mehr gibt.

    Erin muss etwas ausprobieren, bei dem sie das Risiko des Scheiterns eingeht, damit sie lernt, dass sie damit fertig wird, ganz gleich, welche Entscheidung sie trifft. Wenn junge Menschen wie Erin zu mir in die Therapie kommen, sage ich ihnen, dass es keine »richtigen Entscheidungen« gibt, sondern nur faktische Entscheidungen und den Mut, sich darauf einzulassen. Wenn wir Probleme im echten Leben lösen, haben wir nie die Garantie, das »Richtige« getan zu haben. Solange wir uns nicht darauf einlassen, können wir nicht wissen, ob wir den richtigen Partner oder den richtigen Beruf gewählt haben - und manchmal werden wir es überhaupt nie wissen. Ganz gleich, ob wir scheitern, Erfolg haben oder ein Mittelding zwischen beidem, wir müssen in einem bestimmten Augenblick unser bestmögliches Urteil treffen und uns dann auf die Entscheidung einlassen. Wie das Ergebnis auch aussehen mag: Wir werden etwas über unsere Stärken und Schwächen erfahren und wie sie uns beim Problemlösen in Beziehung zu Gleichaltrigen oder Älteren bringen. Korrekturen sind möglich, solange wir imstande sind, mit unseren negativen Gefühlen von Scham, Blamage und Enttäuschung umzugehen - ohne sie gegen uns selbst zu wenden.
    Vielleicht kennen Sie aus der griechischen Mytho logie die Sage von einem Knaben namens Ikarus, dem Sohn des berühmten Baumeisters Daedalus. Ikarus half seinem Vater, Flügel aus Wachs und Federn herzustellen, um einem Labyrinth zu entfliehen, in dem sie gefangen gehalten wurden.
    Sein Vater, ein begnadeter Künstler und Erfinder, schärfte dem jungen Ikarus ein, weder zu niedrig zu fliegen, damit seine Flügel nicht durch den Nebel über dem Meer beschwert würden, noch zu hoch, wo die
Sonne sie zum Schmelzen bringen könnte. Als sie losflogen, blieb Ikarus zunächst in der Nähe seines Vaters, aber bald fand er Geschmack am Fliegen und schwang sich hoch hinauf zur Sonne. Seine Flügel schmolzen, er fiel ins Meer und ertrank.
    Vielleicht wenden Sie jetzt ein: »Das hätte nicht passieren dürfen! Sein Vater hätte ihn Huckepack nehmen sollen, um das zu verhindern.« Ich habe eine andere Lösung, die ich meinem Freund Dan Jacobs verdanke, einem Freud’schen Psychoanalytiker und Psychiater. Bei einer Tagung über Mythen und Bilder hörte ich einen Vortrag, den Jacobs über diese Geschichte hielt. Er äußerte die

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