Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
Vom Netzwerk:
Wettbewerb, in dem Robert zu Recht einen Verweis für Grobheit bekommen hatte.
    Robert und James glaubten, dass die Welt weitestgehend nach dem Machtschema von »Einer frisst den anderen« funktionierte und dass Güte, Barmherzigkeit oder Liebe keine Rolle darin spielten. Im Nachhinein sagte James: »Wir waren schlauer als alle anderen … Die Leute sahen die Dinge nicht so wie wir. Wir hielten das, was man üblicherweise tat, für lächerlich: etwa zur Schule zu gehen und das halbe Leben auf eine Bildung zu verschwenden, die man nicht einmal brauchen kann.« 9 Robert bewunderte Thomas Jefferson und sagte einmal zu einem Lehrer, dass er Jefferson für ein Genie hielt, aber Jeffersons Intelligenz mit seiner (Roberts) nicht mithalten könnte. Der Lehrer amüsierte sich über Roberts Hybris.
    Der extreme Druck, berühmt und anderen überlegen zu sein, zusammen mit einem fehlenden Gewissen, untergrub die humanistischen Werte und Grundsätze, die den Jungen von den Eltern und anderen Erwachsenen zweifellos vermittelt worden waren. Insbesondere Robert stand konstant unter dem Druck, seine intellektuelle Überlegenheit und Unabhängigkeit beweisen zu müssen, während James das Bedürfnis hatte, sich an jemanden zu hängen, der besonders klug war und vielleicht berühmt werden würde. Auch wenn der Plan für das schreckliche Verbrechen nicht von James stammte, stimmte er ihm zu, weil er seinen Freund für eine Art Superman hielt, ein Individuum, das alle anderen überragte. Niemand in Chelsea hatte dieses Bild von Robert fundamental angezweifelt, zumindest nicht offen vor Robert oder James.

    Tatsächlich glaubt der bereits erwähnte Andy Pomerantz - früher einmal praktischer Arzt in Chelsea und jetzt Chefpsychiater an einem Veteranenhospital in Vermont -, dass die Stadt, die Lehrer und die Gemeinschaft der Erwachsenen bei diesen beiden jungen Männern versagt haben. Kein Erwachsener reagierte auf ihre Arroganz mit den entsprechenden disziplinierenden und einschränkenden Maßnahmen. Die Schule, in der - wie im zweiten Kapitel geschildert - die Ein mischung von Erwachsenen als »Adultismus« verpönt war, verlangte keine Rechenschaft von den Schülern. »Disziplin existierte damals in der Schule von Chelsea nicht. Es gab keine Führung durch Erwachsene. Sobald man seinen Unterricht hinter sich hatte, konnte man tun und lassen, was man wollte«, sagte Dr. Pomerantz. Robert und James hatten ihre Pflichtkurse erledigt und waren deshalb frei, in der Gegend herumzufahren und sich ihre intellektuelle Überlegenheit zu beweisen.
    Wenn wir uns ihr sinnloses Verbrechen im Nach hinein anschauen, würden wir gern glauben, dass diese beiden Jugendlichen emotional krank oder anderweitig gestört waren. Als ich wissen wollte, was Dr. Pomerantz von der Behauptung der Reporter vom Boston Globe hielt, dass Robert ein »Psychopath« gewesen sei, sagte er: »Das ist lächerlich. Erstens war er 17. Viele 17-Jährige klingen vielleicht wie Psychopathen, doch sie sind keine. Robert war sehr klug und hatte schon viel gelernt, aber er konnte seinem eigenen Leben keine Richtung geben.«
    Ein Psychopath ist definitionsgemäß ein Mensch mit einer emotionalen Störung, die durch extreme anti soziale Aggression motiviert ist. Nichtvorhandene Reue und ein fehlendes Gewissen werden oft als diagnostisch
entscheidend angesehen. 10 Ich glaube nicht, dass Robert oder James Psychopathen im klinischen (im Gegensatz zum alltäglichen) Sinn des Wortes waren. Sie zeigten keine Anzeichen einer solchen schweren Störung, bevor sie das schreckliche Verbrechen begingen. Sie konnten arrogant und unverschämt, grob und selbstherrlich sein, aber damit hatte es sich auch schon. Die Verbrechen, die sie sich ausdachten, waren nichts weiter als private Gespräche mit teilweise brutalem Inhalt, aber auch angeberisch und naiv. Die Gespräche fanden inmitten eines gesellschaftlichen und familiären Lebens statt, in dem die Jungen Sympathien und Zuneigung füreinander, für andere Menschen und Haustiere zeigten. Auch wenn ihr Beispiel eindeutig extrem ist, ist es dennoch lehrreich: Die Triebfedern für Roberts und James’ Taten waren Selbstaufblähung und Ver sagensangst, nichts Psychopathologisches.
    Was die Eltern von Robert und James angeht, habe ich keinen Hinweis darauf gefunden, dass sie mit ihrer Verantwortung, sich um ihre Kinder und deren Verbleib zu kümmern, grob fahrlässig umgegangen wären. Ich kann mich in sie hineinversetzen und mir vorstellen, dass auch ich

Weitere Kostenlose Bücher