Wenn Eltern es zu gut meinen
die Jungen für besonders talentiert, wenn auch zu wichtigtuerisch gehalten hätte - so wie sie von anderen im Großen und Ganzen eingeschätzt wurden. Ich hätte die Entscheidung der Schule, sie vom Unterricht zu entbinden, nachdem sie die notwen digen Leistungspunkte erreicht hatten, nicht infrage gestellt. Ich gehe davon aus, dass die Tullochs und Parkers »Ich bin okay, du bist okay«-Eltern waren, wie es die meisten gebildeten Eltern heutzutage sind. Ich weiß, dass sie ihre Söhne sehr liebten und sich viel Mühe gaben, sie gut aufzuziehen. Man mag diese Eltern
für schuldig halten, weil sie einige fundamentale Fehler begangen haben. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ich glaube, dass sie, wie all die gewissenhaften Eltern, die ich in der Therapie erlebe, ihr Möglichstes taten, um gute Eltern zu sein. Die Tragik für alle Beteiligten war, dass sie ihre Kinder in einem sozialen Klima aufzogen, das individuelle Leistung und Intelligenz als primäre Erfolgskennzeichen betrachtet. Dieses Klima ermutigt Schüler auch zu glauben, sie hätten Anspruch auf Privilegien und Macht, weil sie besonders sind. Natürlich mündet ein solches Anspruchsdenken fast nie in die furchtbaren Taten, die die Jungen in Chelsea begingen. Und doch kann es oft die Symptome der Selbstwert falle - zwanghafte Selbstbezogenheit, rastlose Unzufriedenheit und den Druck, außergewöhnlich zu sein - hervorrufen, von denen Robert Tulloch und James Parker gekennzeichnet waren. Diese Folgen stehen im krassen Gegensatz zu den Tugenden und Fähigkeiten, die sich engagierte Eltern und Lehrer als Ziel einer gesunden Entwicklung wünschen.
Tugenden und der Erwerb von Fähigkeiten
Tugend, ein weiteres altmodisches Wort, ist der Baustein eines guten, moralischen Charakters; das Wör terbuch definiert sie als »hervorragende moralische Qualität und Rechtschaffenheit«. 11 Jede Liste von Tugenden oder inneren Stärken - ganz gleich, ob sie aus der jüdisch-christlichen, buddhistischen, islamischen oder hinduistischen Tradition stammt - beinhaltet Aufrichtigkeit, Beharrlichkeit, Güte, Geduld, Mut, Dankbarkeit, Großzügigkeit und Weisheit. 12 Die Förderung
dieser inneren Stärken in unseren Kindern und uns selbst erfordert eine sanfte, sachliche Aufmerksamkeit und Hingabe. Wenn wir die Entwicklung von inneren Stärken vernachlässigen und die eigene Wichtigkeit überbetonen, werden wir wahrscheinlich, ohne es zu wollen, die Selbstwertfalle kultivieren. Menschen kultivieren immer etwas in ihrem Denken - Ängstlichkeit, Ärger, Rücksichtslosigkeit, Selbstschutz, Verwirrung. Wenn Sie bewusst versuchen, eine innere Stärke zu kultivieren, ersetzen Sie Ihre Ängstlichkeit oder Verwirrung nicht nur durch etwas Positives, Sie fühlen sich auch zwangsläufig besser, weil Ihr Denken mit etwas anderem beschäftigt ist als seinen eigenen Sorgen.
Meine Mutter sagte häufig: »Tugend ist ihr eigener Lohn«, wenn ich mich darüber beklagte, dass jemand eine Freundlichkeit von mir nicht erwidert hatte. In diesen Augenblicken erhielt ich von ihr etwas, was für mich wie ein rechthaberischer Kurzvortrag über Tugend und deren Folgen klang. Sie pflegte zu sagen: »Wenn du etwas Freundliches tust, kommt diese Freundlichkeit immer zu dir zurück.« Als Buddhistin in der Lebensmitte kommen mir diese früher lästigen Kurzvorträge wie meine ersten Lehren über das Karma vor - was einfach »die Folgen von absichtlichen Handlungen« bedeutet. Buddha lehrte, dass wir immer die Folgen unserer eigenen Handlungen ernten, insbesondere jener Handlungen, die wir mit einem bestimmten Motiv oder einer Absicht tun. 13 In der christlichen Tradition wird über unsere Motivationen dasselbe gelehrt. Wenn es beispielsweise unsere Absicht ist, jemandem zu helfen, und der andere nicht dankbar zu sein scheint, werden wir dennoch von der eigenen Absicht
belohnt. Aus einer guten Absicht entsteht etwas Gutes. Wenn wir andererseits so tun, als würden wir jemandem helfen, weil wir auf Lob oder Belohnung aus sind, werden wir, selbst wenn der andere es nicht zu merken scheint, die Folgen der eigenen Unehrlichkeit ernten. Ich halte die Worte meiner Mutter inzwischen für weise, auch wenn ich sie, besonders als junges Mädchen, mit gemischten Gefühlen aufnahm.
Meine Mutter erinnerte mich auch oft daran, dass »Geduld die größte Tugend ist«, wenn ich harte Arbeit und Übung vermeiden und rasch bei etwas die Beste sein wollte. Sie bestand auf dem Wert der Beharrlichkeit, wie ich es heutzutage nennen
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