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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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Dieser traf uns aus heiterem Himmel, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Die Zantops wohnten etwa 45 Minuten von uns entfernt. Obwohl ich sie nicht persönlich kannte, identifizierte ich mich sehr mit dem, was ich über das ermordete Paar las: zwei gebildete, liebevolle, engagierte Menschen, die ihr Leben dem Ziel verschrieben hatten, jungen Menschen zu helfen, und zwei eigene Töchter großgezogen hatten. Verzweifelt versuchte ich, in den Nachrichten und dem Tratsch im Laden irgendein Wort darüber zu erhaschen, wer dieses brutale Verbrechen begangen hatte. Meine Nachbarn und Therapieklienten gerieten in Angst und ergingen sich in wilden Spekulationen darüber, dass vielleicht irgendwelche Mitglieder einer auswärtigen Bande bei uns ihr Unwesen trieben. Als bekannt wurde, dass man zwei »Jungen aus guter Familie« in Chelsea, Vermont, verdächtigte, waren wir alle äußerst skeptisch. Niemand konnte sich das Motiv oder die Umstände ihrer Tat vorstellen.
    Allmählich sickerten die Einzelheiten durch. Als die
Jungen, Robert Tulloch und James Parker, den Ort der schrecklichen Morde verließen, ließen sie achtlos die Messerscheiden und einen blutigen Fußabdruck zurück. James stellte sich schließlich als Kronzeuge gegen Robert zur Verfügung, und Robert bekannte sich ohne Verhandlung schuldig. Bei der Anhörung standen die beiden jungen erwachsenen Töchter der Zantops den Schülern gegenüber und beschrieben das Engagement, die Großzügigkeit und die Leistungen ihrer geliebten Eltern. James senkte den Kopf und fing an zu weinen, während Robert unbewegt und augenscheinlich emotionslos blieb. Nur James schluchzte: »Es tut mir leid.« Da James Parker mit der Staatsanwaltschaft kooperierte und nicht der »führende Kopf« bei dem Verbrechen war, fiel seine Strafe milder aus. Er wird wahrscheinlich 2016 aus der Haft entlassen. Robert Tulloch hat lebenslänglich bekommen.
    Als ich schließlich begriff, was wirklich geschehen war, wurde mein schmerzliches Mitgefühl wach - natürlich für die Opfer und ihre Angehörigen, aber auch für die Eltern der beiden Jungen. Ich malte mir aus, was es bedeutete, liebevolle und engagierte Eltern (was diese Eltern waren) von Kindern zu sein, die solch ein brutales, sinnloses Verbrechen begangen hatten. Ich erfuhr, dass die Kindheit der Jungen aus Chelsea sich nicht wesentlich von der Kindheit meiner Kinder oder der Kinder meiner Freunde unterschied. Robert, groß, schlank und begabt, besuchte die letzte Klasse der Highschool von Chelsea, in der er für seine mathematische Begabung und seine eigenständige, weit über den Lehrplan hinausgehende Lektüre von Philosophen, wie Friedrich Nietzsche und Henry David Thoreau, bekannt war. James, mit einem breiten, netten Lächeln, war
der sympathische Klassenclown und ein talentierter Schauspielschüler. Sie waren gut in der Schule und hatten weder Alkohol- noch Drogenprobleme. Nach den äußeren Anzeichen zu urteilen, wuchsen sie beide zu den jungen Menschen heran, die sich ihre Eltern und Lehrer wünschten. Wie konnten diese gut be handelten, vielversprechenden und beliebten Jugendlichen ein solches Blutbad anrichten?
    Als Teil meiner Recherchen für dieses Buch las ich ein Buch über den Mord aus der Feder zweier Journalisten des Boston Globe . 7 Mithilfe ihres Berichtes und weiterer Recherchen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Triebfeder beider Jungen in naiven, größenwahnsinnigen Erwartungen und Versagensangst lag. James Parker schien naiver und unterwürfiger, aber er schloss sich Roberts Plan an, wonach sie stehlen oder sogar töten wollten, um ihre Überlegenheit zu beweisen. In Ermangelung eines funktionierenden Gewissens brauten diese ansonsten vielversprechenden Jungen einen tödlichen Cocktail aus Intelligenz, Zynismus, fehlender schulischer Aufsicht und einer schonungslosen Selbstaufblähung.
    Ihr Selbstbild war so verzerrt, dass die Jungen Hitler ganz naiv für eine Art Rollenmodell hielten. Er »war ein ziemlich schlauer Kerl und wirklich gut darin, Menschen zu manipulieren«, bemerkte James in einem Interview und fügte hinzu: »Deswegen hatten wir eine gewisse Achtung vor ihm. Aber wir hatten nichts gegen Juden.« 8 An dem Tag, als sie die Zantops töteten, waren Robert und James in die Gegend von Hanover, New Hampshire, gefahren (wo auch die Stadt Etna liegt), weil sie sich für die beschämende Niederlage des Debattierteams der Chelsea-Schule gegen das Team von
Hanover rächen wollten, in einem

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