Wenn Eltern es zu gut meinen
unserem Leben um mehr und um Wichtigeres geht als unsere individuelle Identität.
Viele »Ich bin okay, du bist okay«-Eltern haben sich, so wie auch ich, von der Religion ihrer Kindheit ab gewandt, weil sie das, wofür diese Religion stand, aus Überzeugung ablehnten oder die Grundsätze ihres Glaubens nicht mehr akzeptieren konnten. Andere Eltern der Generation nach den Babyboomern sind ohne formelle Religion aufgewachsen, weil ihre Eltern keiner Kirche oder Synagoge angehörten. Die Abkehr von der organisierten Religion hat in der Familie, der Erziehung und der Kindesentwicklung einige Lücken hinterlassen. Im vierten Kapitel habe ich auf eine dieser Lücken hingewiesen: dass wir die Bedeutung eines entwickelten Gewissens und innerer Stärken übersehen.
An dieser Stelle möchte ich noch weitere Lücken behandeln: eine mangelnde Sinnhaftigkeit unseres Lebens und Todes und das Fehlen einer tiefen Achtung vor unserer Existenz.
Wenn eine Religion lebendig und intakt ist, wachsen Kinder in einem Milieu auf, das ihnen die Achtung vor der menschlichen Existenz einpflanzt. Fehlt diese Art Einfluss, gelangen sie leicht zu der Überzeugung, es gehe in ihrem Leben nur um sie selbst - dass sie sich amüsieren, vielleicht eine Familie gründen, Geld verdienen usw. Berühmt zu werden ist vielleicht das höchste Ziel für einen Angehörigen der Generation Ich. Sehr wenige junge Menschen stellen beispielsweise die Legitimität einer zeitgenössischen Ikone wie Paris Hilton infrage, die vor allem dafür berühmt ist, berühmt zu sein. Ihre Berühmtheit wäre noch vor 40 Jahren undenkbar gewesen. Damals glaubte man, man habe nicht das Recht, sein Leben zu verschwenden. Ein Paris-Hilton-Leben hätte keinen Sinn ergeben. Wenn unser Leben in der kurzen Spanne unserer menschlichen Existenz vor Gott bestehen soll - wie es früher hieß -, dann wird unsere Suche nach dem Sinn zu einer ernsten Angelegenheit. Berühmtheit um der Berühmtheit willen zählt da nicht.
Im 21. Jahrhundert fällt es weitgehend pädagogischen, kulturellen und familiären Institutionen zu, die nicht religiös geprägt sind, jungen Menschen zu helfen, einen Sinn zu finden und Achtung zu entwickeln. Es gibt viele Debatten darüber, wie man Kindern solche übergeordneten Werte beibringen und einprägen soll. Viele gebildete Menschen hoffen, dass die Wissenschaft die Debatten beenden wird. Auch wenn man die Wissenschaft in ihren vielen Formen als Religions
ersatz für gebildete Menschen betrachten kann, ist es doch eine Verzerrung ihrer Ziele und Methoden, von ihr zu verlangen, die Art von Sinnstiftung und Richtschnur zu liefern, die traditionell Sache der Religion war.
Obwohl ich großen Respekt vor der Wissenschaft hege und mich in meiner Arbeit durchgängig auf sie stütze, betrachte ich sie eher als eine Forschungsmethode denn als ein sinnstiftendes Regelwerk. Ich glaube in der Tat, dass wir über die Wissenschaft hinausgehen und uns innerlich mit einem tieferen Sinn verbinden müssen - etwas, was früher das Göttliche genannt wurde -, um eine Sicht von unserem Leben zu gewinnen, die unsere separate Identität transzendiert. Deshalb möchte ich von Religion und Achtung statt von Spiritualität sprechen.
Als ich in der Einleitung zu diesem Buch schrieb, wie wichtig und schwierig es sei, den richtigen Ton zu treffen, hatte ich nicht speziell dieses Kapitel vor Augen, aber ich hätte es vor Augen haben sollen. Religion, wie auch immer wir uns ihr heutzutage nähern, ist ein äußerst heikles Thema. Bevor ich meine Ansichten zu der Rolle äußere, die sie im Hinblick darauf spielen kann, uns selbst zu verstehen und bei der Erziehung der Kinder zu helfen, bitte ich um Ihre Geduld. Ich hoffe, dass ich Sie davon überzeugen kann, die Themen, die ich anschneide, unvoreingenommen zu betrachten. Einige von Ihnen haben sich aufgrund des Schadens, den die Religion besonders in ihrer organisierten Form sowohl beim Einzelnen als auch in der Welt angerichtet hat, vielleicht schon vor langer Zeit von ihr abgewandt. Andere heißen die Religion oft aus einer Reihe von Gründen gut, die alles oder nichts mit der Sache an
sich zu tun haben. Problematisch sind Religionen vor allem deshalb geworden, weil sie ihre Ideale in einer Weise hochhalten, die das Urteilen über uns selbst und andere verstärkt und unser gemeinsames Menschsein untergräbt. Wenn die Religion bewusst oder unbewusst unsere Ichbezogenheit vergrößert und Mitgefühl und Verbundenheit untergräbt, hat sie
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