Wenn Eltern es zu gut meinen
ist der Gedanke der Religion fremd.
Ein Amerikaner, ein guter Freund von mir, der seit 37 Jahren in verschiedenen Zen-Tempeln in Japan lebt (er ist Zen-Mönch), hat neulich die USA besucht. »Ich habe festgestellt«, sagte er mir, »dass sich die Kinder meiner evangelischen Angehörigen besser entwickelt haben als die Kinder meiner Freunde aus der Gegenkultur. Ich habe mich oft gefragt, ob es an der Religion liegt.« Ja, vermutlich zumindest teilweise. Wahrscheinlich wurden die Kinder seiner Freunde aus der Gegenkultur auch im Dunstkreis der »Ich bin okay, du bist okay«-Erziehung groß und stecken in der Selbstwertfalle. Wie bereits gesagt, kann man bei Kindern auch außerhalb der Religion Anstand und ein gutes Gewissen fördern, aber vielleicht geht es unter dem Einfluss der Religion reibungsloser und leichter, vorausgesetzt, dass die Religion für die Eltern lebendig und bedeutsam ist.
Warum wir Religion brauchen
Der Wunsch, herauszufinden, was in einem tieferen Sinne wahr ist, ist der beste Grund, sich der Religion zuzuwenden. Wie auch die Wissenschaft, so beantwortet die Religion Fragen zu den Kräften, dem Sinn und den Verbindungen, die die Grundlagen unseres Lebens bilden, und konzentriert sich insbesondere auf moralische, ethische, existenzielle Probleme und Beziehungs fragen. Religiöse Praktiken haben Menschen in allen Jahrhunderten die Chance geboten, die Tiefen ihrer Spiritualität und ihres Menschseins auszuloten - zu verstehen, was es heißt zu lieben, zu dienen, die Wahrheit zu erkennen und Hoffnung zu haben inmitten der
Sorgen und Nöte des Lebens. Für mich als Kind war die Kirche der einzige Ort, an dem ich zutiefst die Wirkung von Kunst, Musik und Ritualen auf mein kleines Dasein empfand. Die feierliche Atmosphäre des Gottesdienstes - mit Weihrauch, bunten Glasfenstern und herrlichem Blumenschmuck auf dem Altar - blieb bei mir stärker haften als die Worte, die gesprochen wurden. Die Kirche war ein Ort, der sich von allen anderen Orten unterschied, an denen ich mich sonst aufhielt. Ich verfiel dort oft ins Träumen und dachte über die Geheimnisse des Lebens nach. Heutzutage haben zu wenig junge Erwachsene einen Zufluchtsort, an dem sie sich auf die Geheimnisse des Lebens einlassen können. Wohin gehen sie, um eine Zeit und einen Ort abseits der Hektik zu finden?
Anfang der 1980er-Jahre las ich zum ersten Mal die Vorlesungen über Religion und Psychologie, die der Psychoanalytiker C. G. Jung 1937 an der Yale-Universi tät gehalten hat. In diesen Vorlesungen zeigt Jung, warum die religiöse Suche ganz natürlich zum Menschsein gehört. Er stellt die Frage: »Was ist die ursprüng liche religiöse Erfahrung?«, und definiert sie - ausgehend von der lateinischen Wurzel religio - als
sorgfältige Berücksichtigung und Beobachtung gewisser dynamischer Faktoren, die aufgefasst werden als »Mächte«: Geister, Dämonen, Götter, Gesetze, Ideen, Ideale oder wie immer der Mensch solche Faktoren genannt hat, die er in seiner Welt als mächtig, gefährlich oder hilfreich genug erfahren hat, um ihnen sorgfältige Berücksichtigung angedeihen zu lassen, oder als groß, schön und sinnvoll genug, um sie andächtig anzubeten und zu lieben. 2
Jungs Definition ist weit gefasst und bezieht jede aus Ehrfurcht hervorgehende Praxis ein, die mit Hingabe und Andacht einhergeht - alles Große und Schöne, das wir ernst nehmen.
Ich möchte klarstellen, dass ich mit dem Begriff »Religion« keine Konfession und keine Organisation meine. Vielmehr verstehe ich darunter eine durchdachte und ernsthafte Haltung zu Angelegenheiten der Transzendenz. Mit Transzendenz meine ich Gefühle und Erfahrungen, die die Grenzen unseres persönlichen Selbst und unserer persönlichen Identität sprengen und uns eine Verbundenheit mit der Quelle unseres Seins vermitteln. Religionen geben dieser Quelle verschiedene Namen: Gott, Wahrheit, Allah, Tao, wahres Selbst und Buddha-Geist sind nur einige von ihnen. Eine religiöse Haltung, untermauert von Überzeugungen und einer Übungspraxis, ruft in uns Staunen und Achtung wach, während wir zu der Einsicht gelangen, dass unser Leben und unser Tod natürlichen spirituellen Gesetzen folgen. Wenn unsere Religion authentisch ist, verbindet sie uns mit einer gemeinsamen Erfahrung der Quelle unseres Seins, die von Menschen zu allen Zeiten beschrieben und bestätigt wurde. Es gibt allerdings einige spirituelle und religiöse Praktiken, die das nicht tun; stattdessen versprechen sie dem Individuum
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