Wenn Eltern es zu gut meinen
ihn auf den Arm nahm und streichelte. Untröstlich über seine Ablehnung, zog ich mich auf die Rolle der Versorgerin zurück, zwar pflichtbewusst, aber distanziert und auf der Hut. Jahrelang glaubte ich, dass ich ihn nicht liebte.« 10
Als er in die Pubertät kam, war sein Anblick für sie kaum erträglich: »Sein Kopf war auf beiden Seiten geschoren, und das Haar auf dem Kopf stand kammartig hoch. Um Hals und Arme waren Ketten mit Schlössern und nietenbesetzte Lederstreifen geschlungen, kombiniert mit schmutzigen Halstüchern in Tarnfarbe und
grellen Krawatten.« Sie weigerte sich, ihn zu idealisieren, wie sein Vater und seine Großeltern es taten. Diese glaubten, dass »sich in dieser hässlichen Schale ein Herz aus Gold verbirgt, ein feiner, rechtschaffener junger Mann und brillanter Schüler, tadellos gekleidet und geschmackvoll, wenn man nur den Schlüssel finden könnte, um ihn zu befreien. Ich schließe mich dem nicht an. Es gibt nur einen Matthew. Die Verpackung entspricht dem Inhalt. Lassen wir ihn also so, wie er ist.« 11
Allmählich begriff sie, dass ihre komplizierten Gefühle - Trauer über seine Ablehnung, Angst um sein Wohl, Schuldgefühle, dass sie ihn gefährdet hatte, Interesse und Aufmerksamkeit für jedes kleinste Detail seines Lebens, Verteidigung seiner Freiheit, sich selbst zu entscheiden - ein Ausdruck von Liebe waren. Auf diese Weise wachte sie auf: »Alles in meiner Erfahrung und Erziehung hatte mir eingeredet, dass ›Liebe‹ eine Reaktion auf den anderen ist: ein Aufwallen freudiger Gefühle, ausgelöst von dem angenehmen Aussehen oder Verhalten des anderen. Der Mensch, den ich liebte, gefiel mir nicht. Tatsächlich machte er mich die meiste Zeit völlig verrückt. Aber er hielt mich total in Atem. Und tut es immer noch.« 12
Sie berichtet von Computerspielen mit Matthew, bei denen ihr seine Anmut und die Schnelligkeit seines Denkens auffallen und das Taktgefühl, mit dem er ihr Dinge beibringt. Er versichert ihr, die an multipler Sklerose leidet, dass er sich nicht mit ihr langweilt. Und sie weiß, dass das stimmt. In ihrer Liebe zu Matthew sieht Nancy Mairs etwas von der Liebe Gottes:
Wenn das Liebe ist - und es ist Liebe -, bekomme ich eine Ahnung davon, was die Liebe Gottes sein
könnte. Solange ich sie mir als Erwiderung auf mein Wohlverhalten vorstellte - wenn ich gut bin, liebt mich Gott (bin ich hingegen schlecht, wirft er mich in die Hölle, was die hasserfüllteste Geste ist, die man sich vorstellen kann) -, konnte ich nicht an sie glauben, da die Chancen für mich, jemals gut genug zu sein, um die Liebe Gottes zu verdienen, geringer waren als ein Sechser im Lotto. Aber nehmen wir an, dass Gott keinen besonderen Gefallen an mir findet. Nehmen wir an, Gott findet mich ungefähr so attraktiv, wie ich Matthew in all den Jahren fand, als Rasierklingen an seinen Ohren baumelten, sein Zimmer mit Tellern und Gläsern übersät war, auf denen lange grüne Fäden wuchsen, und seine Lieblingsband »Useless Pieces of Shit« hieß. Nehmen wir an, Gott hat mich ständig im Blick, machte sich Sorgen, als ich betrunken Motorrad gefahren bin und Prüfungen nicht bestanden habe, lachte über meine Witze, steckte sich bei meinen Konzerten Stöpsel in die Ohren, bürgte für mich auf dem Polizeirevier, weinte mit mir, als wir den toten Hund begruben … Oh, ich bin sicher, dass Gott das tut. 13
Und ich ebenso.
Unsere Bereitwilligkeit, uns dem geliebten Menschen immer wieder zuzuwenden, ganz gleich, was er getan hat, und ihn immer gründlicher kennenzulernen, während wir sowohl die erfüllenden als auch die frustrierenden Seiten der Liebe zulassen, ist ein Wunder des Menschseins. Keinem Tier ist das möglich, denn kein Tier hat die Bandbreite und Komplexität von Reaktionen, die wir dem geliebten Menschen und uns selbst gegenüber empfinden. Wenn wir wissen, dass wir mit
uns selbst und dem geliebten Menschen leben und arbeiten können, ganz gleich, was geschieht, dann haben wir das stabile Fundament einer ewigen Liebe.
Der Mythos der romantischen Liebe
So wie es eine gefährliche und falsche Fiktion von der idealisierten Elternliebe gibt, gibt es eine ähnliche Fiktion von der idealisierten romantischen Liebe, die unsere Kinder in der Jugend und im frühen Erwachsenen leben antreibt. Tatsächlich ist Amerika eine Kultur, die nach Romantik dürstet. Romantik ist eine Droge; sie pumpt uns voll mit Fantasien und Träumen - vom geliebten Menschen und uns selbst. So wie wir haben auch unsere
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