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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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gewähren, der zu sein, der er oder sie ist. In jeder liebevollen Beziehung müssen wir die frustrierenden Aspekte von Furcht, Hass, Enttäuschung, Toleranz, Loyalität, Verantwortung und Zukunftsangst zulassen und das tiefe Empfinden akzeptieren, dass der geliebte Mensch der »andere« ist (unser Gegenteil, Feind, Ankläger oder böser Zwilling). Die erfüllenden Gefühle von Trost, Vergnügen, Zuneigung, Vertrauen, Freude, Staunen und dem inneren Empfinden, dass der geliebte Mensch das »Selbst« (so wie ich) ist, sind weitaus willkommener als die frustrierenden.
    Das Aufwachsen in einer Familie garantiert, dass man sowohl den erfüllenden als auch den frustrierenden Aspekten der Liebe begegnet. Bedürfniskollisionen zwischen den Eltern, zwischen Eltern und Kindern und zwischen den Geschwistern sorgen dafür, dass wir lernen, ein Auf und Ab in unseren zärtlichen Beziehungen hinzunehmen. Doch wenn ein Kind von den Eltern nur idealisiert wird, werden diese unschätz baren ersten Lektionen in menschlichen Beziehungen verzerrt. An die Stelle der natürlichen Desillusionierung in der Eltern-Kind-Beziehung tritt durch die Idealisierung die törichte Fantasie von einem perfekten Kind oder perfekten Eltern.
    Desillusionierung ist die Folge, wenn unsere Hoffnungen
und Illusionen zertrümmert werden wie Gestein, das eine Klippe hinabstürzt. Unsere Illusionen zerbrechen, und wir erleben negative Emotionen - Ärger, Angst, Scham, Schuld, Traurigkeit -, die unser Bild vom geliebten Menschen verdunkeln. Was wir uns so gewünscht, worauf wir so gehofft hatten, auch zum Wohl des von uns geliebten Menschen, findet nicht statt, ist nicht wirklich. »Die Liebe offenbart dem Wunsch die Wirklichkeit.« Diese Art von Desillusionierung konfrontiert uns mit unserer Verpflichtung gegenüber dem geliebten Menschen.
    Unsere erste Verantwortung als Eltern besteht darin, unseren Kindern grundlegende menschliche Werte zu vermitteln - das Leben zu ehren, die Wahrheit zu sagen, das Eigentum anderer zu achten und mit Sexualität fürsorglich und respektvoll umzugehen. Unsere zweite Verantwortung besteht darin, uns aus unserer idealisierenden Verstrickung zu lösen. Die Welt der Zukunft ist nicht die Welt der Vergangenheit. Unser Kind wird nicht so sein wie wir, denn es ist ein Kind seiner eigenen Zeit. Als Eltern haben wir die Aufgabe, das von uns geliebte Kind darauf vorzubereiten, ein autonomer, liebevoller Erwachsener - ein normales menschliches Wesen - zu werden. Wenn wir uns dieser Aufgabe nicht widmen, läuft es höchstwahrscheinlich Gefahr, eine rastlose Unzufriedenheit zu entwickeln, die sich in Form von Depression, Angst oder Sucht niederschlagen kann.
    Ein höchst bedeutsamer frustrierender Aspekt der elterlichen Liebe ist die Notwendigkeit, unsere Kinder zu disziplinieren. Meine Eltern waren wie die meisten Eltern meiner Freunde streng. Bei ihnen gab es Regeln, Vorschriften und Strafen. Ich zweifelte nie daran, dass
mich meine Eltern liebten, aber ich wusste, dass ich ihren Regeln gehorchen musste, sonst wurde ich bestraft. Wenn meine Mutter mich feierlich versohlte (»Du weißt, weswegen, und du machst das nicht noch einmal«), fügte sie immer hinzu: »Das tut mir mehr weh als dir.« Ich glaubte ihr das damals nicht, aber als ich selber Mutter wurde, wusste ich genau, was sie gemeint hatte. Unsere Kinder an gutes Benehmen und moralische Verhaltensnormen heranzuführen bedeutet, bereit zu sein, unsere negativen Emotionen zum Disziplinieren und Strafen einzusetzen. Das ist Teil unserer Liebe für sie.
    Wenn ich meinen Kindern Grenzen setzte, indem ich ihnen Privilegien strich, eine Strafpredigt hielt, sie still sitzen ließ oder sie manchmal sogar in die Ecke stellte (das habe ich wirklich getan), dachte ich an die Worte meiner Mutter zurück, dass es ihr wehtat, mich zu strafen. Als meine Kinder neun oder zehn waren, sagten sie manchmal: »Ich hasse dich!«, wenn ich sie ausschimpfte oder ihr Verhalten kritisierte. Auch wenn ich so etwas zu meiner eigenen Mutter nicht hätte sagen dürfen, empfand ich ihre Worte als ehrlichen Ausdruck ihrer echten und nachvollziehbaren Gefühle. Und ich erwiderte: »Natürlich hasst du mich. Ich bin deine Mutter.« Wer könnte hassenswerter sein? Ich war der wichtigste Mensch in ihrem noch jungen Leben, und meine kritischen Reaktionen taten ihnen weh. Ich ging davon aus, dass ihr Hass stark war, weil ihre Verbindung zu mir auch stark war, auch wenn ich es nicht gern hörte, dass sie mich hassten. Es

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