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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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ist natürlich, dass auch Eltern in der Beziehung zu ihren Kindern eine Mischung aus Hass und Liebe empfinden.
    Als Eltern sollten wir uns unserer ambivalenten Gefühle
gegenüber unseren Kindern nicht schämen, sondern sie stattdessen nutzen, um unsere Weisheit und Objektivität weiterzuentwickeln. Ambivalenz gibt sowohl Kindern als auch Eltern die Chance, Frustrationstoleranz zu lernen und gelassen mit negativen Gefühlen und Gedanken umzugehen (ohne sie unbedingt auszudrücken), um auf diese Weise Anstand zu ent wickeln. 8 Anstand ist ein lebenslanger Schutz gegen die Selbstwertfalle. Wenn ein Kind die Spätpubertät erreicht hat, sollte es wissen, dass wahre Liebe ambivalent ist und das Tolerieren von Hassgefühlen verlangt. Es sollte verstehen, dass Liebe heißt, sich dem Wohlergehen des anderen zu verpflichten, anstatt primär auf angenehme Gefühle und darauf aus zu sein, dem anderen zu gefallen. Wahre Liebe bedeutet, dass wir die Freiheit und das Wohlergehen des geliebten Menschen im Auge behalten, ganz gleich, was wir in einem bestimmten Augenblick fühlen. Offensichtlich können gute Eltern lernen, ihre Kinder auf diese Weise zu lieben, aber erwachsene Kinder sollten ebenso lernen, ihre Eltern auf diese Weise zu lieben.

Wahre Liebe
    In einer Kultur wie der unseren, in der Liebe mit Idealisierung verwechselt wird, ist es, wie schon erwähnt, eine wirklich große Leistung, unsere Kinder zu lieben. Die ganze Zeit über müssen wir die sechs Regeln des normalen Lebens beherzigen, die ich im sechsten Kapitel vorgestellt habe: Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, Fleiß, Konzentration und Weisheit. Sie werden uns helfen, die erfüllenden Freuden und Träume und die frustrierenden
Hassgefühle und Enttäuschungen nicht allzu schwerzunehmen. Mit dieser umfassenden Akzeptanz geben wir unserem heranwachsenden Kind eine unschätzbare Hilfestellung und praktizieren die höchs te Form menschlicher Zuwendung.
    Wahre Liebe ist die Bereitwilligkeit, uns einem Menschen, den wir gut kennen und klar wahrnehmen, immer wieder mit Interesse, Wärme und Mitgefühl zuzuwenden, ganz gleich, wie enttäuscht wir sein mögen. Es ist die Bereitwilligkeit, ehrlich, aber freundlich über die Fehler und Misserfolge des anderen zu sprechen (neben seinen Begabungen und Stärken) und Kinder an Wahrheit und innere Stärken heranzuführen, unabhängig davon, ob ihre Reaktionen in uns unangenehme Gefühle auslösen. Es ist das Wissen, dass wir loyal, aber nicht töricht für das Gute in ihnen eintreten werden, wenn es auf dem Prüfstand steht, und alles tun werden, was in unseren Kräften steht, um ihr Wohlergehen zu verbessern.
    Liebe bedeutet, dass wir uns selbst aus der Distanz betrachten, nicht nur um zu sehen, dass wir zutiefst menschlich und nichts Besonderes sind, sondern auch, um unser eigenes Spektrum von Gewohnheiten, Schwächen und Dummheiten zu erkennen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Wir sollten unsere Schwächen und Dämonen den Menschen, die wir lieben, nicht mehr als unbedingt notwendig zumuten. Überdies müssen wir auch bereit sein, unsere Gefühle der Frustration zuzulassen, ohne dem anderen dafür die Schuld zu geben. Geduld mit unseren negativen Gefühlen lässt uns entdecken, warum wir sie so intensiv spüren: weil uns das Wohl des anderen so sehr am Herzen liegt.

    Wenn ein Kind von seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen auf diese Weise geliebt wird, hat es die Möglichkeit, sich selbst auch so zu lieben - sogar in der Pubertät und ganz gewiss als Erwachsener. Ist das Kind imstande, sich als normalen Menschen mit bestimmten Stärken und vielen Schwächen zu lieben, wird es als Erwachsener andere lieben können und nicht den endlosen Drang spüren, seinen mangelnden Selbstwert aufzupolieren. In all den Jahren habe ich ein Beispiel für diese Art von Liebe nicht vergessen können. Es stammt aus dem 1993 erschienenen Buch Ordinary Time von Nancy Mairs. 9
    In ihrem Bericht über ihre Liebe für ihren heran wachsenden Sohn Matthew - der mit einer Gelbsucht und Rhesusunverträglichkeit zur Welt kam und seine erste Lebenswoche getrennt von ihr im Brutkasten zubrachte -, schildert sie zuerst die frustrierenden Aspek te ihrer Gefühle für ihn. Seine Geburt war, wie sie schreibt, die »eine große Tragödie« ihres Lebens. Ihre anfängliche Trennung von Matthew hatte bei ihm, wie sie glaubte, eine gestörte Bindung zu ihr ausgelöst. »Von Anfang an schrie er meistens, wenn er wach war, und umso lauter, wenn ich

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