Wenn er mich findet, bin ich tot
sind. Eine englische Trauerrede. Alle werden still. Meine Fingerknöchelchen krachen, so fest presst Kolja meine Hand. Mir laufen die Tränen übers Gesicht. Ich bin absolut machtlos dagegen. Paolos Arm liegt schwer auf meiner Schulter.
»Aber warum und wie ist sie gestorben?«, fragt er leise.
»Das wissen wir nicht«, sagt Beck. »Die Polizei ist jetzt am Unfallort.«
Als Jana laut aufschluchzt, kann sich keiner mehr zusammenreißen. Alle weinen, schlagen die Hände vors Gesicht. Cem verlässt mit bebenden Schultern den Container. Lars und Nils ziehen sich ins Vorratslager zurück, Jana und Ben liegen sich heulend in den Armen, Vanessa lässt sich von Sam trösten.
Das Telefonklingeln hört sich fremd an, und als die Tür aufgeht, zucken wir alle zusammen.
Ein riesiger Wikinger klopft sich den Schnee von den Stiefeln und lässt seinen Blick durch den Küchencontainer streifen. Bis er mich entdeckt.
Es ist Kommissar Eetu Mieto. Sein Assistent folgt ihm und stellt ihn uns akzentfrei vor, dann sich selbst: »Ich bin Kriminalassistent Harald Hultmann. Bin in Wilhelmshaven geboren. Wer von euch ist Tilly Krah?«
»Ich.«
Er mustert mich. »Wir wollen mit dir anfangen.«
»Was anfangen?«, fragt Paolo. Er klingt kein bisschen aggressiv.
»Die Todesursache aufzuklären«, sagt Hultmann knapp.
»War es denn kein Unfall?«, fragt Ben entsetzt.
Und Sven fragt: »Ist Sandra nicht … erfroren?«
»Die Reihenfolge wird so rum sein – wir fragen euchund fangen jetzt an. Einen nach dem anderen und am liebsten hier. Deshalb geht ihr auf eure Zimmer und kommt, wenn wir euch aufrufen. Keiner verlässt das Camp.«
Eine zweite Aufforderung ist nach dieser Ansage nicht nötig. Nur Paolo zögert einen kurzen Moment, ehe er aufsteht, Kolja an der Hand hochzieht und mit ihm den Container verlässt. Zurück bleiben die Polizisten, Riski, Tonberg, Beck und ich. Zwei Minuten später haben Mieto und sein Übersetzer meine Betreuer so weit manipuliert, dass sie mich hängen lassen. Und dann sind nur noch die Polizisten und ich da. Ich schiele zur Uhr.
10:35.
Sie legen mir eine Umgebungskarte vor, das heißt die Fotokopie einer Karte, Maßstab 1:25.000. Alles ist drauf, sehr detailreich, inklusive dem russischen Grenzgebiet. Das Camp und jeder einzelne Container sind rot eingezeichnet. Rot auf weiß. Panik! Augen zu und tief durchatmen.
»Wo warst du gestern nach dem Aufstehen? Und wen hast du wann und wo gesehen?«
Hultmann legt mir einen Stift hin und pocht auf die Karte.
Mieto lässt mich nicht aus den Augen.
Ich mache Kreuze und Hultmann notiert Zeit und Namen. Vor Anstrengung steht mir kalter Schweiß auf der Stirn. Meine Kreuze müssen so: X aussehen! Unter keinen Umständen dürfen sie so: + aussehen.
»07:30 – 08:00, Frühstück im Küchencontainer. Alle, auch Sandra, waren da. X
08:00 – 08:15, mit Jana gespült, abgetrocknet und aufgeräumt.Meine Skier standen da drüben an Riskis Container gelehnt. Ich hab sie durchs Küchenfenster gesehen und mich aufs Laufen gefreut. X
08:15 – 10:00, Toilettenwände im Disko-Iglu abgeschliffen. Vanessa war in der zukünftigen Toilette nebenan. Paolo, Kolja, Sam, Cem und Riski haben am Dach gearbeitet. Tonberg ist gegen 09:30 dazugekommen. Ich habe nicht immer alle gesehen, aber gehört. X
10:00 – 10:15, Kaffeepause. Da waren immer noch alle da. Anschließend haben Sandra und Vanessa abgewaschen.«
Prompt verrutscht mein X zum + . Ich überkritzele es und mache ein neues X . Mieto entgeht nichts.
»10:15 – 11:00, wieder Wände abschleifen im Disko-Iglu. X
Um 11:00 wollte ich laufen gehen, aber meine Mütze, Jacke und Skier waren weg. Ich hab Vanessa nach meinen Sachen gefragt und dann Beck und Tonberg im Küchencontainer. Dann ist Kolja gekommen. Er hat Sandra vermisst, und wir haben angefangen, sie zu suchen.«
»Wieso?«
»Was, wieso?«
»Wieso hab ihr gleich eine Suche losgetreten? Ist das hier so üblich, wenn einer mal kurz weg ist?«
»Sandra ist üblicherweise nicht kurz weg. Wo soll man denn hier hin?«
»Du gehst Langlaufen«, stellt Hultmann fest.
»Ja, mit Riski. Sandra ist aber allein losgezogen. Und das zum ersten Mal.«
»Bist du nie allein gelaufen?«
»Doch, am Anfang. Aber außer Riski und mir läuft sonst niemand.«
Ich zeige auf der Karte, wo Riski, Paolo und ich im Gelände gesucht haben. »Es hat die ganze Zeit geschneit. Wir haben aufgehört, als wir nichts mehr gesehen haben. Danach waren wir alle im Küchencontainer.
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