Wenn er mich findet, bin ich tot
hab das gefrorene Blut gesehen und glaube nicht, dass es ein Unfall war.«
»Wie ist es gekommen, dass du über Sandra gestolpert bist?«
Die hören einfach nicht auf, und die bohrenden Fragen zielen darauf, ob ich das Grab meiner Bettnachbarin, die aussieht wie ich, wirklich zufällig gefunden habe.
»Als Sandra gestern los ist, war die Loipe nicht so verschneit wie heute. Sie ist ihr gefolgt, wir auch. Wir konnten ja gar nicht anders! Die war vollständig mit Schnee bedeckt. Meine, das heißt Becks Skier, haben sich unter ihr verhakt.«
Kein Wort glauben sie mir, aber sie lassen mich gehen. Ich leg mich auf mein Bett und zieh mir die Decke über den Kopf. Doch es hilft nicht viel. Vanessa und Jana wollen nicht, dass ich denke, es interessiert sie, was ich weiß. Deshalb fragen sie nicht, was die Bullen wissen wollten. Lieber platzen sie vor Neugier, baden in Trauer, vibrieren vor Aufregung – im fliegenden Wechsel. Als ich endlichallein bin, sehe ich sofort nach meinen Panikbüchern. Zu meiner Erleichterung stehen meine ausgelatschten Laufschuhe unangetastet auf Akne-Sams Spindblech, worunter sie sich befinden. Niemand hat sie gefunden.
Nacheinander werden die anderen befragt.
Kurz nach drei Uhr führen mich Mieto und Hultmann ins Disko-Iglu und wollen genau wissen, was ich da gemacht habe.
Ich zeige ihnen die abgeschliffene Eiswand.
Hultmann sagt, Vanessa könne sich nicht erinnern, mich gesehen zu haben.
»Sie hat mit Cem geflirtet, ich hab jedes Wort verstanden. Fragen Sie ihn. Sie müssen mich gehört haben«, sage ich und demonstriere mit dem Reibebrett an der Wand, dass die Arbeit alles andere als geräuschlos ist.
»Sie kann sich auch nicht erinnern, dass du sie nach deiner Jacke gefragt hast.«
Ich zucke gleichgültig mit der Achsel, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlägt. »Wenn ich ’n Kerl wär, könnte sie’s.«
Wir sind keine Unschuldslämmer, das wissen Mieto und Hultmann, und wir wissen, dass sie andere Fragen stellen würden, wäre Sandra an den Folgen eines Unfalls gestorben.
Unsere Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, und im Küchencontainer eskaliert es, als Vanessa rausplatzt: »Ich will nicht mehr mit Tilly zusammenwohnen. Die tickt nicht richtig. Und immerhin ist sie die Hauptverdächtige.«
Der Geräuschpegel schießt sofort zur hysterischen Höchstmarke hoch.
Paolo packt mich am Arm: »Hol dein Zeug. Du ziehst zu uns.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich Beck nicken.
»Dann kommt Sam zu uns«, verlangt Vanessa.
»Sam? Wieso Sam? Ich hör wohl nich recht?«, brüllt Cem.
Und draußen vorm Küchencontainer kriegen wir Becks Entrüstung mit: »Was ist los mit dir, Vanessa? Warum musst du an so einem schrecklichen Tag Streit anzetteln?«
Paolo, Kolja und Sam haben sich ihre Blechbehausung in zwei Betten rechts und zwei Betten links aufgeteilt. Durch einen schmalen Mittelgang kommen sie in ihre Kojen, die dafür relativ geräumig und mit den Spinden voneinander abgetrennt sind. Mein Kabuff ist dem Klo am nächsten, was mir total egal ist.
Es schneit konstant. Die Jungs helfen mir, mein Zeug rüberzuholen. Die Laufschuhe, das Blech und meine Tagebücher trage ich selbst. Keinem fällt was auf, wenn es direkt vor ihren Augen geschieht.
»Glaubst du, es war einer von uns?«
»Nein, Kolja.« Das kann ich mir nicht vorstellen.
»Wie ist sie gestorben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Vanessa ist ’ne Schlampe«, sagt Paolo. »Die labert nur Mist.«
Dazu sag ich nichts, aber eine Frage an Kolja hab ich: »Kannst du mir das Messtischblatt beschaffen?«
»Was für’n Ding?«, fragt er zurück.
»Haben euch Mieto und Hultmann nicht den riesigenUmgebungsplan gezeigt?« Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in Paolos Augen zu sehen.
Er schüttelt den Kopf. »Mir hat er gar nichts gezeigt.«
Doch Kolja nickt. »Besorg ich dir. Weiß jetzt, was du meinst. Aber wozu brauchst du den Plan?«
»Irgendwas ist mir darauf komisch vorgekommen.«
»Wieso fragst du sie nicht selber?«
»Weil ich ihnen lieber aus dem Weg gehe«, sag ich und dreh mich um.
Sam reißt die Tür auf. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrt er erst Kolja, dann Paolo und dann mich an. Kälte breitet sich aus. Schneeflocken tanzen herein. Die Tür steht weit auf.
»Was ist los, Mann?«, fragt Paolo. »Sag schon!«
»Sandra ist …«, sagt er leise. Seine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich will es nicht hören. Irgendwas stimmt nicht mit der roten Mütze über ihrem weißen Gesicht und dem
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