Wenn er mich findet, bin ich tot
gefrorenen Blut unter ihrem Kopf. So nah, so dicht vor meinen Augen. Ich liege wieder auf ihr, stoße fast mit meiner Nase auf ihre und schüttle wild den Kopf.
»… erschossen worden«, stammelt Sam.
Paolo packt meinen Arm und hält mich fest. Es tut weh.
Kolja rennt aus dem Container.
9
Wer?
Wer war es?
Wer hat Sandra erschossen?
Erschossen. Das klingt so wahnsinnig … entschlossen.
Und wenn sie erschossen worden ist, weil sie so ausgesehen hat wie ich? Wenn der Mörder sie mit mir verwechselt hat? Wenn er mich töten wollte? Aber wieso? Wer will mich loswerden?
In dem Augenblick, als die Panikwelle auf mich zurast, klopft es. Ich sitze auf dem Bett, schnappe nach Luft und rufe nicht herein .
»Tilly?« Becks Stimme hinter meinem Türvorhang-Laken. Und noch mal: »Tilly, bist du da?«
Ich kriege nur ein Krächzen zustande: »Ja.«
Der Vorhang wird ein Stück zur Seite geschoben. Becks Kopf taucht auf. »Ist das hier okay für dich?«
»Wenn es für die Jungs okay ist«, murmle ich.
»Wir sind alle im Küchencontainer.«
Beck wartet, dass ich mich bewege, aber ich bin noch nicht so weit. »Vanessa erzählt Kommissar Mieto Lügen über mich«, sage ich.
»Nicht nur über dich. Sie ist …«, Beck verstummt. »Wie geht’s dir?« Er macht sich Sorgen, das ist unübersehbar.
Wahrscheinlich sehe ich gespenstisch aus, blutleer. Ich fühle mich auch so. »Ich kipp nicht aus den Latschen«, behaupte ich trotzdem. Tatsächlich beruhigt mich seine Anwesenheit.
Er nickt und sagt zögerlich: »Deine Mutter sagt, sie hat keine Ahnung, ob du früher auch schon mal in Ohnmacht gefallen bist.«
»War sie etwa nüchtern? Richtig ansprechbar?« Das wäre mal was Neues. Fast schon ein Wunder.
»Nein.« Beck lächelt unsicher. »Sie hat gesagt, du wärst nicht ihr Kind.«
»Sie verliert leicht mal den Überblick bei ihrer großen Kinderschar. Ich hab jahrelang bei Tante Mandy gewohnt, ihrer Schwester. Fast bis zur Einschulung. Früher hab ich immer geglaubt, dass Tante Mandy meine Mutter ist. Auf jeden Fall hab ich es lange gehofft.«
»Aha. Sie hat, äh, sich beschwert, ich hätte sie doch erst vor Kurzem nach dir gelöchert. Und da hätte sie mir doch schon gesagt, wo du steckst und dass du nicht ihrs wärst.«
»Du hast sie zweimal angerufen?«
»Nein, sie hat mich mit jemand verwechselt, der sie nach dir gefragt hat, und dem hat sie wohl gesagt, wo du bist. Und dass du nicht ihr Kind bist«, erklärt mir Beck geduldig.
Verwechselt? Vor meinen Augen verschwimmt alles und ich stammle: »Aber wer hat sie nach mir gefragt?«
»Das hat sie nicht gesagt.«
»Du sagst, sie hat sich beschwert? Sie hat bestimmt getobt, gekeift und unverständliches Zeug geschrien.« Da bin ich mir absolut sicher. »Wann war das?«
»Vorgestern hab ich sie endlich erreicht.« Beck seufzt. »Und ja, stimmt, es war eine unerfreuliche Unterhaltung.«
Vorgestern hat Sandra noch gelebt. Vorgestern ist lange her. Ein Menschenleben ist seither vergangen.
»Jetzt komm rüber, Essen ist fertig. Du musst bei Kräften bleiben.«
Beck wendet sich zur Tür. Ich will nicht, aber ich folge ihm und rede einfach weiter: »Meine großen Geschwister sind weg und die kleinen im Heim. Meine Alten sagen jedem, dass wir nicht ihre Kinder seien. Sie saufen und sind wütend, weil sie nicht mehr auf uns einschlagen können.«
»Ich kenn den Bericht der Jugendhilfe.«
Selbst wenn, weiß er gar nichts. »Sam hat gesagt, Sandra ist erschossen worden.«
»Ja. Sie war … sofort tot. Das sagt der Kommissar.«
»Keiner von uns würde so was machen.«
Beck dreht sich um und guckt mich lange an. »Ich kann’s mir auch nicht vorstellen.«
Im Küchencontainer gibt es kein anderes Thema. Nur Kolja sagt kein Wort. Und bei mir kreisen Gedanken ohne Anfang und Ende im Kopf.
»Was, wenn jemand uns alle abknallt? Einen nach dem andern!«, kreischt Vanessa. »Ich fühl mich hier nicht mehr sicher.«
Sie ist am Durchdrehen, was ich verstehen kann.
»Zunächst verlässt bitte keiner allein das Camp«, sagt Tonberg ruhig. »Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, steht es jedem frei abzureisen.«
»Hier kann uns doch niemand helfen!« Vanessa istnicht zu bremsen. »Wieso kriegen wir keinen Polizeischutz?«
»Bist du dumm oder was?«, fragt Cem aggressiv.
Vanessa hat mehr als seine Wehrhaftigkeit infrage gestellt. Auch die anderen sehen Vanessa an, als hätten sie die gleiche Frage an sie. Eigentlich sind sich immer alle darüber einig gewesen, dass man
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