Wenn er mich findet, bin ich tot
Schutz vor der Polizei braucht, nicht von ihr.
»Alles hier ist voller Bullen. Du hast Polizeischutz. Du hast die volle Aufmerksamkeit der Polizei. Wir stehen nämlich alle unter Verdacht«, haut Cem verächtlich raus.
Vanessa hat ihn einmal zu oft verarscht, denke ich.
»Das ist doch totaler Quatsch!«, keift Vanessa. »Woher sollten wir denn eine Pistole oder ein Gewehr haben?«
»Wie seid ihr denn an den Alkohol gekommen? Woher hatte Sandra das Handy? Wieso sagen die Ladenbesitzer in Ivalo zu Riski, ihnen wäre es lieber, wenn er ohne euch käme?«, fragt Beck scharf.
Niemand antwortet. Ich halte die Luft an.
»Ihr klaut. Und zwar alle und alles. So sieht das aus. Das weiß jeder«, sagt Beck. »Außerdem will ich speziell von dir, Vanessa, dass du die Kriminalbeamten, von denen du beschützt werden willst, nicht anlügst. Kapiert?«
Großes Schauspiel: Vanessa wird rot, schluchzt, wirft die Arme auf den Tisch, lässt den Kopf daraufsinken und stößt lautes Geheul aus. Sam tätschelt ihr den Rücken.
Unerträglich. Selbst Jana wendet sich ab. Mir raubt die Gruppendynamik den letzten Nerv. Container 4 ist mit dem Küchendienst dran, also fange ich an abzuräumen.
Wer hat Sandra erschossen? Mein Hirn rotiert. Wieso, weshalb, warum?
Kolja ist mir in die Küchenecke gefolgt, ich kriege es erst mit, als er mich anstößt. Was er murmelt, kann ich kaum verstehen: »Der Plan steckt in deinem Kopfkissen. Pass auf, dass Sam nichts mitkriegt.«
»Was?«
»Dein Messtischblatt.«
»Ach ja. Wie hast du es …«
»Frag nicht. Oder du kannst dir deinen Scheiß selbst beschaffen.«
»Okay.« So viel zum Thema Klauen. Aber eine Pistole oder ein Gewehr klaut keiner von uns. Niemals! Zumindest sehr unwahrscheinlich, denke ich.
»Also ich hab für niemand ’ne Knarre besorgt«, sagt Kolja, ohne mich anzusehen, als könnte er meine Gedanken lesen. »Und du übernimmst meinen Abwasch.«
»Klar.«
Im funzeligen Licht der Containerbeleuchtung kann ich die Details nicht erkennen. Außerdem müsste ich den Plan ausbreiten, um einen Überblick zu kriegen. Aber die Jungs schlafen noch zu unruhig, sie grunzen und schmatzen. Es ist kurz nach zehn. Ich warte, bis ich mich aufs Klo verziehen kann, und konzentriere mich solange auf die ganz große Frage: Wer hat die Alte nach mir gefragt? Wer will wissen, wo ich bin? Irgendwer hat sie mit konkreten Fragen nach mir gelöchert und genervt. Ein Mann, klar, sonst hätte sie nicht Beck für den Anrufer gehalten. Möglich, dass der andere einen ähnlichen Ton hatte, nach amtlicher, autoritärer Behördenstimme geklungen hat, sonst hätte sie nicht sofort losgekeift. Wahrscheinlich hat der erste Anrufer Druck gemacht. Wann hat er angerufen?
Sie hat ihm erzählt, dass ich hier bin. Ist er mir gefolgt? Bilde ich mir nicht nur ein, dass ich beobachtet werde? Stimmt es vielleicht? Verfolgt mich jemand, wenn ich laufe?
Quatsch! Wahnhafte Störung, paranoide Psychose, ich hab’s schriftlich. Unwillkürlich halte ich mich am Bettrahmen fest, um nicht in die Nacht hinauszulaufen. Ich will weg. Weit weg. Er ist hier, und er ist hinter mir her, denke ich zwanghaft und kann es nicht abstellen. Hat er Sandra mit mir verwechselt? Denkt er jetzt, ich wäre tot? Aber wer? Der Teufel? Das hat mich ein bescheuerter Psychiater gefragt. Meine Alten haben uns nichts über Gott oder den Teufel erzählt oder uns gar Märchen vorgelesen. Und meine Alten sind auch nicht mehr hinter mir her. Das ist vorbei. Wer soll es also sein? Ich schluchze los. Presse mir die Hand auf den Mund. Krümme mich. Beiß mir in die Hand. Plötzlich durchzuckt mich der Gedanke, dass man die Alten informieren würde, wenn ich tot wäre. Natürlich! Dann würde die Organisation den Eltern Bescheid geben. Mir wird schlecht, mir wird kalt und eine neue Kette von Überlegungen setzt sich in Gang.
Die Kälte zieht durch den Trainingsanzug in die Knochen. Ausgebreitet liegt die Umgebungskarte vor mir auf dem Badezimmerfußboden, und ich starre seit fünf Minuten darauf, ohne dass mir wieder einfällt, was ich darauf Merkwürdiges gesehen habe. Doch als ich sie wieder zusammenfalten will, fällt es mir ins Auge. Da! Am äußeren, rechten Rand ist eine Hütte eingezeichnet.
Die Hütte! Das ist es! Habe ich nicht jemand dort gesehen? Und das Licht? Ich habe es nicht ernst genommen,es für unmöglich gehalten, weil ich immer gedacht habe, dass die Grenze genau da verläuft. Aber das stimmt gar nicht. Auf der Karte wird es klar: Das
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