Wenn er mich findet, bin ich tot
’ne echt schöne und empfindsame Seele.«
»Alter. Das siehst du richtig.«
Als Paolo mich ansieht, wird sein Blick auf einen Schlag ernst und sehr dunkel. Er liegt auf dem Rücken im Schnee und winkt mich mit einer kleinen Bewegung der rechten Hand zu sich. Mehrere Herzschläge setzen bei mir aus. Ich eiere zu ihm hin.
»Ich will deiner Seele was sagen«, murmelt er. »Treffen wir uns heute Nacht um eins in der Kantine?«
»Will sie hören, was du ihr sagen wirst?«, frag ich zurück. Ich bin vorsichtig geworden, was ihn anbelangt.
»Oh ja«, sagt Paolo.
Und ich glaube ihm.
Er taucht nach dem Abendbrot und dem Rumblödeln im Schnee nicht in unserer Einraumwohnung aus Blech auf. Ich dusche derweil lang und gründlich, rasier mir die Achsel- und Beinbehaarung mit Paolos Rasierer weg und jage mir Koljas Allure-Homme-Sport-Deo von Chanel unter die Arme. Es brennt. Ich auch, vor Ungeduld. Es ist erst zehn. Kolja schläft schon. Um elf hat mich bereits jede Sekunde so durch die Mangel gedreht, dass von mir nichts mehr da ist. Ich bin ein Häufchen Mehl. Mehl denkt nicht. Mehl ist gut, man sieht es nicht im Schnee. Ich schleiche rüber zur Kantine und drücke mit angehaltenem Atem die Klinke runter. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich verriegle sie hinter mir.
»Endlich. Ich warte schon eine Ewigkeit«, flüstert Paolo.
Ich suche in der Dunkelheit nach ihm. Vorm Heizkörper ist ein Lager auf dem Boden. Da taste ich mich hin.
»Komm unter die Decke«, sagt er mit rauer Stimme.
Eine schöne Überraschung: Er ist nackt. Das erleichtert einiges. Und seine nackte Haut ist eine Sensation, stelleich bibbernd fest. Sie glüht, ist magisch glatt und duftet. Mir wird heiß, und vier Sekunden später bin ich auch meine blöden Klamotten los. Wir küssen weiter, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben.
Bitte, jetzt kein Seelengespräch, ist mein letzter Gedanke. Meine Lippen erkunden ihn, seine mich. Unsere Körper lassen sich bei ihrer Unterhaltung miteinander nicht mehr unterbrechen. Ich spür seine langen Finger überall und kann nichts machen, ein Schauer nach dem andern durchwandert meinen Körper. Ich bin gespannt wie eine Feder und am Durchdrehen. Er nimmt sich alle Zeit der Welt. Irre! Er drückt nicht meinen Kopf runter, dass ich ihm einen blase, wie die meisten Jungs nach zwei Minuten, was ich verabscheue. Paolo drückt nur da, wo es mich um den Verstand bringt. Kein An-den-Haaren-Ziehen, kein Kneifen, null Akrobatik, nur geil.
Könnte schreien. Stellt alles in den Schatten, was ich bis jetzt erlebt habe. Ich flippe aus, vergehe, schmelze dahin wie Eis unterm Bunsenbrenner.
Restlos.
Stemme die Beine nach oben und schleudre die kratzige Wolldecke weg. Wir dampfen still und zitternd vor uns hin.
»Hast du Kondome?«, flüstere ich.
»Wofür?«
Wir lachen lautlos. Er flüstert mir direkt ins Ohr. Es kitzelt, ich versteh ihn kaum. »Als wir angekommen sind, stand in unsrem Container eine Packung Präser, Stückzahl einhundert.«
»Was?« Krank! Abtörnend. »Im Container 2 auch?«
Er nickt.
»Ist ja das Allerletzte«, flüstere ich empört. »Bei uns nicht!«
»Mein Anteil von vierunddreißig Stück ist noch komplett.«
Das besänftigt mich. »Lass uns welche zum Einsatz bringen. Die Polarnacht ist noch jung«, schlag ich vor.
Wir machen ewig miteinander rum. Als mein Hals so trocken ist, dass ich nur noch krächzen kann, klauen wir einen Liter Milch aus dem Kühlschrank und trinken ihn gierig leer.
Um fünf liegen wir in unsren Betten. Und beim Frühstück, als Beck sagt, »die Milch wird knapp«, blinzeln wir uns einmal unauffällig mit geröteten Augen an. Vom Aurora Linna Icehotel werden Polarschlafsäcke geliefert. Die Abordnung besichtigt die eisigen Schlafräume und die Disko und wirkt sehr zufrieden. Wir alle rufen aufgekratzt durcheinander. Obwohl ich mich noch nicht ansatzweise bei wachem Verstand fühle, packt auch mich die totale Aufregung. Es ist ein besonderer Tag.
IIII IIII IIII IIII IIII IIII IIII IIII II I
Heute Nacht werden wir in der Disko das Abschiedsfest feiern und anschließend alle zusammen in unserer Jugendherberge aus Eis übernachten. Stolze Eisbaumeister sind wir und rechtzeitig fertig geworden.
Ich suche Paolos Blick, aber er sieht nicht zu mir her. Ich hab keine Ahnung, ob er auch bedauert, dass wir keine Chance auf eine weitere Kantinenübernachtung haben. Morgen packen wir unser Zeug zusammen und übergeben alles andere an die
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