Wenn er mich findet, bin ich tot
wann immer du willst, und mit mir trainieren. Du bist immer willkommen.«
Ich lächle. »Mach ich. Danke für alles.«
Er lacht. »Ich hab zu danken, Tilly.« Riski deutet mit dem Kopf über den Fluss. »Sogar die Russen würden gerne mit dir trainieren.«
»Hä?«
»Ernsthaft. Du hast keine Ahnung, wie gut du bist.«
Wir drehen um und laufen zum Camp zurück.
»Stopp!« Kolja stürzt im Bus nach vorne. »Ich muss kurz raus.«
Der Busfahrer vermutet einen Anfall von Übelkeit, fährt rechts ran und öffnet die Tür.
Kolja flitzt wie ein Schneehase über den Parkplatz und verschwindet in dem angestrahlten Aurora Linna Icehotel . Von meiner Gestörtengruppe regt sich darüber keiner auf. Wir sind emotional mit Abschiednehmen beschäftigt.
Aber die Betreuer machen einen Aufstand.
Tonberg tobt: »Wir fahren weiter! Was soll das denn jetzt?«
Paolo wühlt sich nach vorne und flüstert Beck was ins Ohr. Beck flüstert Tonberg was ins Ohr. Stille Post. Die Proteste verstummen.
Wir fotografieren derweil mit den wieder ausgehändigten Handys das angestrahlte Hotel. »Unser Eispalast sieht besser aus«, so unser einhelliges und objektives Urteil.
»Was hast du Beck gesagt?«, frag ich Paolo, als er sich hinter mir in den Sitz fallen lässt.
Er antwortet mir sogar.
»Dass die neu entwickelten Schlüsselqualifikationen bei Kolja einen Ehrlichkeitsschub ausgelöst hätten und erunbedingt ein im Hotel geklautes Handy zurückgeben muss.«
Da kommt er auch schon zurück, passiert die kopfschüttelnden Sozialpädagogen und schiebt sich zu uns nach hinten durch den Gang.
»Hab’s im Kasten. Jetzt kann’s heimgehen.«
Ich bin froh. Kolja hat doch noch den Eintrag im Gästebuch abfotografiert, der mich aus den Latschen gehauen hat. Später werde ich ihn mir genau ansehen, ausdrucken und in mein Panik-am-Polarkreis-Buch einkleben. Vielleicht krieg ich doch noch heraus, warum er mich so in Panik versetzt hat.
Riski kommt zu uns. »Ich steig in Ivalo aus. Fällt mir nicht leicht, mich von euch zu verabschieden.« Er sieht mich an. »Komm mich besuchen, Tilly, jederzeit. Vergiss das nicht und pass auf dich auf.«
Ich umarme ihn und sage: »Dieses Jahr lauf ich dir nicht mehr nach, Riski. Und obwohl das für mich echt hart ist, freue ich mich trotzdem zum ersten Mal in meinem Leben aufs neue Jahr.«
Er drückt mich, bis meine Rippen krachen, dreht sich abrupt um und stapft wieder nach vorn.
Ich habe gute Vorsätze. Im neuen Jahr werde ich herausfinden, wer ich bin.
II. Teil
Ein Mädchen im Herrenhaus
14
Ich bin Tilly Krah.
Ob unsere Viererkonstellation mit Beck ein Glücksgriff ist oder nicht, das ist noch nicht raus. Das neue Jahr hat eben erst angefangen und meine Zukunftswünsche sind bescheiden. Ich bin nicht mehr so naiv zu erwarten, wir würden uns im Wohnzimmer des Chefs vorm knisternden Kamin zum abendlichen Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel treffen und uns unterhalten, gemeinsam kochen und essen. Gedanken an Sexspiele oder auch nur an einen Spaziergang mit Paolo verbieten sich von selbst. Er ist so offensichtlich auf dem Rückzug, da mach ich mir nichts mehr vor. Aber irgendwie hab ich erwartet, mit Rücksicht auf die ländliche Massentierhaltung ginge Silvester ruhiger ab. Sensible Säue soll man nicht erschrecken, und Kühe würden saure Milch kriegen, wenn’s um sie herum kracht, hab ich gedacht. Im Gegenteil: Die Hiesigen verballern die gesamte Jahresproduktion der chinesischen Feuerwerksindustrie, wenn auch nicht allein. Kolja und Paolo sind mitten unter ihnen. Paolo bei den Kerlen, schwankend, immer eine Flasche an den Lippen. Kolja legt ritterlich Feuer an die Bombenrohrkracher der Mädchen und lässt für sie aus Paolos frisch geleerten Flaschen Raketen abzischen. Brunftzeit Jahreswende.
Die Mädchen kreischen.
Die Kerle johlen: »Mir goht oiner ab!«
Wir leben auf dem Land, in Lauterstetten, im äußersten Südwesten der Schwäbischen Alb. Der Anschlag am Gemeindehaus behauptet, Lauterstetten sei Heimat für 689 Seelen. Wir nicht mitgezählt. Uns halten die für seelenlose Zigeuner, zumindest Paolo und mich.
»Bist du Deutsche?«
Ich nicke.
Staun. Ungläubig: »Sind deine Haare echt sooo schwarz oder gfärbt?«
Ich sondere mich ab. Gelernt ist gelernt: In »Gemeinde« steckt das Wort gemein. Hab alle vielfältigen Formen von Gemeinheit schon gehabt. Nur die noch nicht: Dipl. Soz. Päd. Becks Erziehungsplan für uns sieht vor, dass wir noch weitere Schlüsselqualifikationen erwerben
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