Wenn er mich findet, bin ich tot
immer zusammen. Die Arbeit geht mir in einer Art bewusstlosem Zustand absolut hirnlos von der Hand, also rein körperlich. Denken ist nicht nötig, bloß ackern ist gefragt. Deshalb hab ich viel Energie dafür, mit GROSSER Ungeduld im Camp auf neue Erkenntnisse aus dem Kommissariat zu warten. Und ich warte auf eine Entscheidung von Beck und laufe hinter oder vor Riski her, um mich abzulenken, wann immer es möglich ist.
Alle laufen jetzt.
»Das ist doch Scheiße, wenn nur Tilly Wintersport machen darf! Tilly und ihre Nachmacher, Paolo und Kolja.« Vorgestern hat Jana mit dieser Bemerkung einen Wintersport-Boom ausgelöst.
»Wer von euch will denn auch Wintersport machen?«, hat Riski nachgehakt. Das war beim Frühstück.
Alle Zeigefinger flitzten hoch.
»Und was genau?«
Mit Schneemobilen und Snowboards rumkurven, favorisieren die meisten. Vanessa und Jana wollen auch Langlaufen, so wie ich. Nur Cem, der mit Abstand schwerste Kerl des Camps, will Skispringen. Also leuchten wir jetzt abends mit dem Baustellenlicht den Hang hinterm Camp aus, legen mit den Schneemobilen im Neuschnee eine Piste an und mit der Schaufel eine Schanze und rutschen mit Skiern, Plastikfolien und allem, was geht, auch auf der Schaufel selbst, den Hang hinunter. Das einzige Snowboard geht reihum. Spaß haben wir alle.
Bloß Mieto und Hultmann lassen sich nicht blicken. Der einzige Bote aus der zivilisierten Welt ist ein Lkw, der Eisblöcke anliefert. Skulpturen und Mobiliar sollen daraus gearbeitet werden. Keiner will es zugeben, aber wir sind nicht nur extrem stolz auf die fast fertigen »Gebäude«, Jugendherberge und Disko, die schon jetzt jede Menge hermachen, sondern haben mittlerweile auch Spaß an unserem Arbeitsmaterial gewonnen. Auch wenn die Eisblöcke, die wir künstlerisch verarbeiten sollen, weniger geschmeidig sind als unser zukünftiger, bitte englisch aussprechen, Personal- Pädagoge. Der lässt sich leichterbearbeiten als meine Schnee-Eule. Entgegen meiner künstlerischen Absicht verwandelt die sich unter meiner Hand und der Flamme des Bunsenbrenners in einen verkrüppelten Pinguin.
Gerade will ich Hammer und Meißel in die Ecke pfeffern, als Beck sagt: »Also gut. Es geht klar. Ihr könnt zu mir.«
Um den Hals fallen ist nicht drin, aber ich krächze heiser: »Vielen Dank, Chef.«
Paolo und Kolja sind nicht so zimperlich. Sie kriegen markiges Schulterklopfen und Knuffen in der Art von Mannschaftssportlern hin und drücken ihre Freude mit halben Männerumarmungen aus.
»Es ist amtlich, bleibt aber besser vorerst unter uns.«
»Klar. Ab wann?«
»Ab dem zwanzigsten Dezember?«, schlägt Beck vor. »Dann könnt ihr euer Zeug abholen und eure Zimmer einrichten. Anschließend feiern wir zusammen Weihnachten.«
Kling, Glöckchen, klingelingeling. Wir stehen im Diskoiglu, nur wir vier, aber ich schwör, eben ist ein Engel vorbeigeschwebt. Sandra? Bilde mir ein, meine Schnee-Eule lächelt und zwinkert mir zu.
Au Mann, ich muss raus!!!
»Nicht weinen, Tilly«, hör ich Paolo noch sagen.
Der Schnee knirscht. Ich muss endlos gehen, bis mich niemand mehr sehen kann. Dann lasse ich mich einfach auf den Rücken fallen. Ich bebe, schreie, presse mir die Handschuhe auf den Mund. »Sandra, hörst du mich? … Danke, Sandra. Danke!« Meine gespreizten Arme und Beine bewegen sich automatisch auf und ab und formeneinen Weihnachtsengel in den lockeren Schnee. Stopp! Ist meine Engelsfigur voll Blut? Ich springe auf. Nein, kein Blut im Schnee. »Danke! Ich danke dir Sandra! Hörst du mich? Sandra!« Wie kann das gehen? Ein irrer Schmerz und Glück zerreißen mir gleichzeitig das Herz.
Im Zentrum des Camps vor dem Küchencontainer sehe ich, als ich zurückkomme, die unbewegten Visagen von Hultmann und Mieto, dessen Augen allerdings nicht unbewegt sind. Sie bohren sich geradezu in mich hinein.
»Wir haben Sandras Mörder zehn Kilometer von der finnischen Grenze entfernt aus dem Eis geschnitten«, sagt Hultmann. »Das heißt, gesägt.«
Vielleicht, weil ich nicht reagieren kann, sagt er: »Und?«
Da würge ich und kotz ihm direkt vor die Füße in den Schnee.
»Und was?«, fragt Beck wütend. »Soll Tilly nachfragen, warum ihr ihn nicht geföhnt und aufgetaut habt? Oder was meinen Sie mit diesem und ?«
Mieto schüttelt den Kopf. Nicht klar ist, wen er damit rügen will: mich, Beck oder Hultmann.
Ich wische mir das Gesicht mit Schnee ab.
»Wir haben ihn anhand seines Personalausweises identifiziert. Der war im Rucksack. Sein
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